Zeitschrift 

Die siebziger Jahre

Facetten eines Jahrzehnts

Neue soziale Bewegungen -
zwei Beispiele

Die neue Ostpolitik

Die Ära Honecker

Terrorismus
 

Heft 2/2003 
Hrsg.: LpB



 

Inhaltsverzeichnis

Baustein C

Die neue Ostpolitik


Die "neue Ostpolitik" der sozialliberalen Koalition markierte einen grundlegenden Wandel in der deutschen Außenpolitik. Sie war in den siebziger Jahren heftig umstritten, konnte sich aber bei Wahlen und Umfragen auf eine ausreichende Mehrheit stützen. Eine angemessene Behandlung dieses Komplexes im Unterricht sollte folgende Einsichten vermitteln:

  • Ansätze für eine Neuausrichtung der deutschen Politik gegenüber den Staaten des Ostblocks gab es bereits vor 1970, aber erst jetzt kam es zu einer Realisierung solcher Ansätze.

  • Die "neue Ostpolitik" war ohne den zuvor erfolgten Wandel des internationalen Bedingungsgefüges nicht denkbar. Sie folgte den allgemeinen Tendenzen zu einem geordneten Nebeneinander der Blöcke, der "zunehmenden Beschränkung des allgemeinen Systemkonflikts" (Richard Löwenthal) und war Teil der Entspannungs- und Vertragspolitik, welche sich bereits seit der zweiten Hälfte des vorangegangenen Jahrzehnts angekündigt hatte.

  • Die "neue Ostpolitik" ging von den in Europa nach 1945 entstandenen Realitäten aus; sie akzeptierte weitgehend den Status quo und die "normative Kraft des Faktischen".

  • Sie bezog - zum ersten Mal - die DDR in die Vertragspolitik ein und setzte damit die "Hallstein-Doktrin" endgültig außer Kraft.

  • Dies bedeutete, dass die DDR faktisch als Staat anerkannt und ein gleichberechtigtes Nebeneinander der beiden deutschen Staaten vertraglich abgesichert wurde, wobei die internationale Aufwertung der DDR hingenommen werden musste.

  • Die "neue Ostpolitik" und insbesondere der Grundlagenvertrag schlossen eine spätere Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht aus; an dem grundgesetzlich verankerten Ziel der Wiedervereinigung und am Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen wurde festgehalten - freilich nicht in den Verträgen selbst, sondern nur im "Brief zur Einheit der Nation" (C 8) und in der Erklärung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972. 5

  • Der Grundlagenvertrag war in Deutschland vor allem deshalb umstritten, weil er die Chancen für die Wiedervereinigung nicht vergrößerte und der DDR Zugeständnisse machte, ohne gleichzeitig entsprechende Gegenleistungen einzufordern (C 10).

 

Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR

Aus der Rede des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph beim Treffen mit Bundeskanzler Willy Brandt am 21. Mai 1970 in Kassel

Die Verweigerung der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und ihrer Staatsgrenzen zwingt zu dem Schluss, dass man sich so für aggressive Handlungen gegen die Grenzen der DDR, gegen ihre Staats- und Gesellschaftsordnung die Hände frei halten will in der Annahme, auf diese Weise nicht als Aggressor völkerrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden...

Das Volk der DDR besitzt das fundamentale und unveräußerliche Recht sowie den moralischen Anspruch auf völlige Gleichberechtigung, auf uneingeschränkte Anerkennung der Völkerrechtssubjektivität seines sozialistischen Staates... Bei der DDR und der BRD handelt es sich um zwei voneinander unabhängige Staaten. Das allein schon schließt die Formel "innerdeutsch" aus... Zwischen der DDR, wo das werktätige Volk Eigentümer der Produktionsmittel ist und alle Macht in den Händen hat, und der BRD, wo das Rüstungs- und Bankkapital herrscht, wo die großen Monopole über alle Reichtümer der Gesellschaft verfügen und den entscheidenden Einfluss auf die Politik ausüben, kann es kein "inneres" Verhältnis geben. Zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist ... eine Mischung nicht möglich.

Das Parlament vom 30. Mai 1970, S. 2 f.

 

Selbstverständlich wird man die negativen Aspekte dieser Politik nicht unterschlagen. So verfolgten DDR und Bundesrepublik mit dem Grundlagenvertrag durchaus unterschiedliche Absichten: der DDR ging es um die schon lange ersehnte völkerrechtliche Anerkennung, der Bundesregierung um "menschliche Erleichterungen" und um die Aufrechterhaltung von Bindungen zwischen den "zwei Staaten einer Nation". Dieses Bestreben der Bundesregierung konterkarierte die DDR mit der Idee einer "sozialistischen Nation" und mit verstärkter Abgrenzung von der Bundesrepublik, was mit Unterdrückung der Oppositionsbewegung in der DDR einherging. Auch der vertraglich gesicherte Besuchs- und Transitverkehr funktionierte nicht so reibungslos wie vereinbart.

 

Neue Ostpolitik 

Voraussetzungen

Wirtschaftliche Bedürfnisse der DDR
(Ausbau des innerdeutschen Handels)

 

 

Internationale Entspannungstendenzen
Junktim zwischen KSZE und Verbesserung in den deutsch-deutschen Beziehungen (z.B. Normalisierung des Status von Berlin)
Ansätze zur Normalisierung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR
"Wandel durch Annäherung"

Vertragspolitik
  1. Gewaltverzichtvertrag mit der UdSSR (12.8.1970)
  2. Gewaltverzichtvertrag mit Polen (7.12.1970)
  3. Gewaltverzichtvertrag mit der Tschechoslowakei (11.12.1973)
  4. Viermächteabkommen über Berlin (3.9.1971)
  5. Abkommen über den Transitverkehr nach Berlin (17.12.1971)
  6. Vereinbarungen zwischen Berlin (West) und der DDR (20.12.1971)
  7. Grundlagenvertrag (21. Dezember 1972)

Bundesrepublik
Deutschland:
Auslegung des Vertrags
  • Zwei Staaten einer gesamtdeutschen Nation
  • Aufrechterhaltung der Forderung nach Selbstbestimmung des deutschen Volkes
  • Vertretung der Interessen der freiheitlich- demokratischen Grundordnung für alle Deutschen
Ergebnisse
Normalisierung des Verhältnisses zur UdSSR und zu Polen
Änderung des Verhältnisses zur DDR
Faktische (nicht: völkerrechtliche) Anerkennung der DDR
Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in die Vereinten Nationen
DDR: Auslegung des Vertrags
  • Völkerrechtliches Abkommen zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland
  • Kein Offenhalten der deutschen Frage (Politik der Abgrenzung)
  • Wiedervereinigung nur in einem kommunistischen deutschen Staat

Nach: Politik & Unterricht. Sonderheft Mai 1980, S. 59

Strukturskizze 2

Methodische Anregungen

Die Schülerinnen und Schüler sollen sich die Ambivalenz der neuen Ostpolitik bewusst machen, auch wenn es keine tragfähige Alternative dazu gab. Dazu wird die Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Hälfte erarbeitet die Motive der sozialliberalen Koalition, die zum Abschluss der Verträge führten (C 4, C 5), die andere Hälfte bezieht eine Gegenposition (C 10 sowie D 11, D 12, D 14). In einer moderierten Debatte werden die beiden Auffassungen konfrontiert.

 

Kontroverse Positionen zur neuen Ostpolitik

Die Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel löste einen erbitterten und sich ständig verschärfenden Streit zwischen Regierung und Opposition aus.

Die CDU/CSU-Opposition warf der Regierung vor, sie habe

  • sich selbst unter Zeitdruck und Erfolgszwang gesetzt,
  • Rechtspositionen ohne Not aufgegeben, insbesondere die DDR als gleichberechtigten Staat anerkannt,
  • zugelassen, dass die Verträge Mehrdeutigkeiten enthielten,
  • die sowjetische Hegemonie in Osteuropa nicht nur akzeptiert, sondern legalisiert.
  • Die Bundesregierung wandte dagegen ein, sie habe objektiv unter Zeitdruck gestanden, da die bisherige Politik (des Alleinvertretungsanspruchs) auch bei den Verbündeten zunehmend auf Widerspruch stieß,
  • nur Positionen aufgegeben, die nicht mehr zu halten waren,
  • das Selbstbestimmungsrecht und damit das Streben nach Einheit der Nation gewahrt,
  • die Verträge in allen entscheidenden Punkten eindeutig gehalten,
  • einen Modus vivendi mit der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern erreicht.

Horst Pötzsch: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, München (Olzog) 1998, S. 173 f.

 

Mögliche Aufgaben

  • Erarbeiten Sie Inhalte und Motive der "Politik der Stärke" der unionsgeführten Regierungen und vergleichen Sie damit die sozialliberale "neue Ostpolitik".

  • Erläutern Sie das die neue Ostpolitik bestimmende Prinzip "Wandel durch Annäherung".

  • Fassen Sie den Inhalt des Grundlagenvertrages mit eigenen Worten zusammen.

  • Erörtern sie die Bedeutung des "Briefes zur Einheit der Nation" (C 8), und nennen Sie Gründe dafür, dass der dort erhobene Anspruch nicht in die Vertragstexte selbst aufgenommen worden ist.

  • Stellen Sie in einer systematischen Übersicht die Positionen der CDU/CSU und des Kabinetts Brandt/Scheel zum Grundlagenvertrag einander gegenüber.

  • Warum wurden die Ostverträge als eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte bezeichnet?

  • Ordnen Sie die neue Ostpolitik in die Geschichte der Nachkriegszeit ein.

  • Diskutieren Sie die These, dass die neue Ostpolitik eine wichtige Voraussetzung für die innere Auflösung des SED-Regimes in den achtziger Jahren und für die Wende in der DDR gewesen sei.


5 "Im Kern bedeutet dieser Vertrag (der Moskauer Vertrag vom 12. August 1970) eine De-facto-Anerkennung der Grenzen und Machtverhältnisse in Europa durch die Bundesrepublik, die jedoch eine spätere Wiedervereinigung ausdrücklich nicht ausschloss." (Jürgen Weber: Deutsche Geschichte 1945-1990, München [Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit] 2001, S. 153)

Texte und Materialien
BAUSTEIN C Die neue Ostpolitik

C 1 Karikaturen
C 2 bis C 5 Anfänge, Motive und Ziele
C 6 Das System der Ostverträge
C 7 bis C 10 Der Grundlagenvertrag
C 11 und C 12 Beurteilungen

 


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