Zeitschrift

Deutschland wächst zusammen

Baustein D

Einheit braucht Zeit

Manches dauert etwas länger

Heft 2/2000 , Hrsg.: LpB


Inhaltsverzeichnis


D 12: Frage von 1977

Von Christa Wolf

Auch heute
wachsen Kinder auf,
in den beiden
deutschen Staaten.
Fragen wir uns denn
ernst genug:
Wie sollen die,
wenn sie groß sind,
miteinander reden?
Mit welchen Wörtern,
in was für Sätzen,
und in welchem Ton?

Aus der Danksagung nach dem Empfang des Bremer Literaturpreises 1977. Die Schriftstellerin Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg (Warthe) geboren. Sie war von 1949 bis 1989 Mitglied der SED. 1976 hatte sie gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR protestiert.

D 13: Rückblende

Eine Bürgerin der ehemaligen DDR über ihre Jugendzeit

Das Land, in dem ich Kind war, gibt es nicht mehr. Es war ein Land, in dem viel von Zukunft zu hören war, in dem ich mit anderen Kindern sang: "Die Heimat hat sich schön gemacht und Tau steht ihr im Haar..." Und jetzt ist es ein Land der Vergangenheit.

Wir griffen nach den Sternen, wollten das höchste Menschenglück... Lichte Horizonte ahnten wir. Und dort prangte ein Ziel, ein einziger Begriff für all das, was menschlich ist. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das Zauberwort hieß: Kommunismus. Für ihn lohnte sich alle Mühe. Dafür lernten wir. Dafür wollten wir arbeiten. Mädchen genauso wie Jungen. Bei der Wahl des Berufes überlegte man weniger: Was würde mir Spaß machen? Eher: Womit wäre ich am nützlichsten?

Ich wuchs heran mit einem Wust von unerreichbaren Idealen, aus denen unerfüllbare Forderungen an mich entstanden... Der Druck, den ich empfand, war durch mich selbst erzeugt. Sonst hätte er nicht funktioniert.

Ich dachte mit acht, als Junger Pionier, dem Weltfrieden zu dienen, wenn ich Altstoffe sammelte. Ich wollte mit neun die gemauerte Trennung von meiner Westberliner Großmutter gutheißen, weil sie angeblich wichtig war für mein Land. Ich mühte mich mit siebzehn als Oberschülerin und FDJlerin, meine Freiheitssehnsüchte zu unterdrücken, um ein treuer Staatsbürger zu werden... Mit zwanzig, als Studentin der Journalistik, schob ich die Spitzelwut, die Engstirnigkeit und Verlogenheit der Hochschullehrer und ihrer Helfer unter den Studenten auf ihre persönliche Unfähigkeit, nie aber auf den Sozialismus als Ganzes, mein Ziel und Ideal... Ich war ein Pionier geblieben bis über die dreißig. Und es gab viele wie mich...

Heute, da die DDR sich vor der Weltöffentlichkeit entblättert wie ein sterbender Baum, fragen sich viele: Wie konnte es so weit kommen? Warum habt ihr das mit euch machen lassen? Nein, es war nicht nur Angst und Feigheit. Und wir haben es auch nicht nur mit uns machen lassen. Wir haben es selbst gemacht. Wir sind einem falschen Ideal aufgesessen.

Vera-Maria Baehr: Wir denken erst seit Gorbatschow, Recklinghausen (Georg Bitter Verlag) 1990, S. 7-9.

D 14: Garagenaspirant Müller

Antrag an den Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front auf Zuteilung einer Garage. Franz Müller führt in seinem Antrag aus, wie er ideologischen Leitlinien und offiziellen Vorgaben folgt bzw. zu folgen vorgibt, um Chancen oder knappe Güter für sich zu erlangen.

Franz Müller, Garagenaspirant

An den Leiter der Kommission zur Vergabe von Plätzen im Objekt Garagengemeinschaft am Sandberg

Antrag auf Genehmigung eines Garagenplatzes

Werter Genosse Lehmann!

Mit diesem meinem Schreiben möchte ich Sie ersuchen, mir die Genehmigung für einen Garagenplatz in dem geplanten Objekt am Sandberg zu erteilen. Meinen Antrag möchte ich damit begründen, dass ich bereits seit zehn Jahren in dem Wohngebiet lebe und mich gesellschaftlich aktiv an Einsätzen im Wohngebiet beteiligt habe. An den Subbotniks [ein in der arbeitsfreien Zeit geleisteter zusätzlicher und unentgeltlicher Arbeitseinsatz] der Hausgemeinschaft habe ich, von wenigen Ausnahmen abgesehen (immer entschuldigt!), teilgenommen. Seit drei Jahren bin ich als stellvertretender Hausobmann in der Wohngemeinschaft tätig.

Verbessert haben sich ... schon jetzt die Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit in unserem Aufgang, die gegenseitige Rücksichtnahme bei Festen und Feiern und den Handwerksarbeiten in der Wohnung (Bohren und Hämmern)... Auch als Parteiloser habe ich den Aufbau unserer sozialistischen Heimat immer nach besten Kräften unterstützt. So diente ich freiwillig drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee. Im FDGB bin ich seit mehreren Jahren als Kulturobmann unseres sozialistischen Kollektivs tätig. Im Anglerverband unseres Ortes übernahm ich nach dem bedauerlichen Ausscheiden eines unserer älteren Mitglieder (Todesfall) die Kassierung...

Ich hoffe, dass die nur kurz gefasste Nennung meiner gesellschaftlichen Aktivitäten ein ausreichendes Bild ergibt, um in den Genuss der begehrten Garagenplätze zu gelangen. Selbstverständlich werde ich die Eigenleistungen selbsttätig in der geforderten Höhe erbringen.

Zwecks Rücksprachen stehe ich jederzeit zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen
Franz Müller

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Gemeinsam sind wir unterschiedlich, Bonn 1995, S. 35 f.

D 15: Käuferschlange

D 16: Alte Häuser und Plattenbauten

D 17: Aus den Stasi-Akten

Vorkommnisse an der EOS (Erweiterten Oberschule) Carl von Ossietzky, Berlin-Pankow

HA XX/8
An HA XX/2 u. HA XX/9                                               30.9.88

Gen. Lohr Gen. Edel
... Seit Beginn des Schuljahres 1988/89 wurden an der EOS Carl von Ossietzky, durch Schüler dieser EOS verursacht, folgende politisch-negativen Vorkommnisse bekannt:

- am 11.9.88 wurden während der Gedenk-Kundgebung für die Opfer des Faschismus 8 namentlich bekannte Jugendliche herausgelöst..., die selbstgefertigte Transparente mit der Aufschrift "Wir wollen keine Neonazis" mit sich führten...
- am 13.9.88 wurde ein posterähnlicher Aushang angebracht, in dem die Militärparade am 7.10.88 verunglimpft und zum Verzicht darauf aufgerufen wird: "... Säbelrasseln, Demonstrationen der militärischen Stärke und Zurschaustellung todbringender Waffen ist nicht mehr zeitgemäß".

Von Seiten des Direktors der EOS sind folgende Maßnahmen vorgeschlagen worden, die auch die Zustimmung der Genossin Margot Honecker gefunden haben:

- Relegierungen von der EOS (= Ausschluss aus der Schule)
- Verweis und Umschulung.
Die notwendigen Schritte zur kurzfristigen Realisierung der Relegierung sind vollzogen worden.

Nach: Wolfgang Hardtwig/Heinrich August Winkler: Deutsche Entfremdung, München (Beck) 1994, S. 64 f.

D 18: Erziehung zur Anpassung

Wo beginnen die Kompromisse, und wo enden sie? Sie beginnen im Kindesalter, in dem man, um sich selbst und seinen Eltern Schwierigkeiten zu ersparen, in der Schule nicht von der offiziellen Ideologie abweicht. Sie setzten sich fort in den höheren Schulklassen, wo man aus taktischen Gründen weiter lügt und das als seine Überzeugung ausgibt, was für den späteren Weg am dienlichsten ist, um nicht von der Schule gewiesen zu werden und sich eine möglichst gute Lehrstelle zu sichern oder einen Platz an der EOS (Erweiterte Oberschule), die zum Abitur führt... Entscheidend für die Zulassung an eine höhere Bildungsstätte ist in erster Linie die Entwicklung zur "sozialistischen Persönlichkeit" und das Elternhaus. Da dies hinreichend bekannt ist, wird jedem schon früh gesagt: "Reiß' dich zusammen; wenn du weiterkommen willst, mußt du eben auch einstecken können, der Lehrer hat immer recht." Später, im Betrieb, setzt sich das fort, nur mit tiefgreifenderen Konsequenzen...

Matthias Bothe; in: Gerhard Finn, Liselotte Julius (Hg.): Von Deutschland nach Deutschland, Bonn 1983, S. 61 f. (Matthias Bothe studierte bis 1976 an der Hochschule für Musik in Ost-Berlin, wurde wegen "staatsfeindlicher Hetze" eingesperrt und kam 1978 in die Bundesrepublik.)

D 19: Neugierig oder trotzig?

Immer wieder ist darauf hingewiesen worden, dass man nicht die Biografien eines ganzen Volkes mit einem Schlage für null und nichtig erklären kann, dass in dem Maße, wie Kompetenzen und Orientierungen der Menschen, die sich in langen geschichtlichen Zeiträumen gebildet haben, der völligen Entwertung verfallen, jede Möglichkeit der differenzierten Aufarbeitung der Vergangenheit ausgeschlossen ist: Wer alles falsch gemacht hat und wem alles, was er tut, als absolut unzulänglich demonstriert wird, der beginnt mit der Wiederherstellung seiner Würde auf einer ganz anderen Ebene, nicht mit neugierigem Lernen gegenüber dem Ungewohnten, sondern mit trotzigem Beharren und am Ende mit der entschiedenen Verteidigung der Vergangenheit.

Oskar Negt; zitiert nach: Daniela Dahn: Westwärts und nicht vergessen, Reinbek (Rowohlt) 1998, S. 25.

D 20: Unterschiede akzeptieren

Die Interessen von West- und Ostdeutschen sind nicht identisch. Diese Erkenntnis sollte nicht durch einen harmonisch verklärten Blick auf die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West überdeckt werden. Sie ist die Voraussetzung für eine Integration der beiden deutschen Gesellschaften. Denn sie mündet in die Einsicht, dass sich durch die deutsche Einheit die politische Kultur der gesamten Bundesrepublik verändert hat.

Iris Häuser: Gegenidentitäten, Münster (Lit Verlag) 1996, 
S. 235.

D 21: Lebenszufriedenheit in Ost und West

1 = unzufrieden
5 = sehr zufrieden

Daten: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49/99, S. 26. 
Zeichnung: Claudia Saupe

D 22: Was ist zu tun?

1. Wir müssen unsere Geschichten vereinigen. Wir müssen die persönlichen Begegnungen und das persönliche Gespräch zwischen Ost und West intensivieren.

2. ... Wir brauchen, nicht nur in Ostdeutschland, mehr politische Bildung. Enttäuschungen über die Regierungspolitik und über wirtschaftliche Schwierigkeiten dürfen nicht wieder zur Totalkritik des 
"Systems" führen, die die parlamentarische Demokratie, den Rechtsstaat und die soziale Marktwirtschaft in die Pfanne haut...

3. Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für die ostdeutschen Probleme in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit und in den gesamt-deutschen Parteien...

4. ... Die Einigungskosten sind verspätete Kriegsfolgelasten. Sie sind der Preis für das endgültige Ende des Zweiten Weltkriegs.

Richard Schröder: Probleme der inneren Einheit Deutschlands, Köln (Wirtschaftsverlag) 1996, S. 36 f.

D 23: "Ich bin Bundesbürgerin"

Ich habe diese Wende gewollt. Dafür bin ich im Herbst 1989 mit auf die Straße gegangen, montags, hier in Leipzig. Ich weiß auch heute noch nicht, was ich aus dieser DDR wiederhaben wollte... Ich kann doch das, was der Staat seinen Bürgern angetan hat, nicht so einfach vergessen. Ich kann doch nicht die Stasi vergessen und sagen: es war doch so schön warm hier.

Jetzt nach der Wende gibt es so viele positive Veränderungen, die ich am alltäglichen Erleben festmache und die ich ganz bewusst wahrnehme. Ich will nur einige nennen: "Meine" Stadt zeigt wieder ihr Gesicht. Immer mehr verschwinden Grau, Zerfall und Schmutz. Leipzig bietet Leben und eine außergewöhnliche kulturelle Vielfalt. Straßen sind saniert und ausgebaut, Radfahrwege angelegt und Bäume gepflanzt worden... Leipzigs Luft kann man wieder atmen und der Himmel ist wieder blau. Der Umgangston in den Behörden hat sich verändert. Meine privaten Lebensverhältnisse haben sich verbessert. Und ich habe ein gesetzlich verbrieftes persönliches Recht...

Ja, ich bin Bundesbürgerin - mit meiner Identität und meinem Selbstverständnis, die aus meinem Leben in den vierzig Jahren DDR resultieren. Das können mir auch besserwisserische Altbundesbürger, die mich nur nach ihrem Bild geformt tolerieren wollen, die den Ostdeutschen zudem Neid, mangelnde Lernfähigkeit und ignoranten Hochmut attestieren, nicht absprechen. Nebenbei bemerkt: so wie diese Altbundesbürger will ich auch gar nicht werden...

Auch wenn die westdeutsch geprägten Nachrichtenmagazine oder -redaktionen mich immer wieder mit ihrer Ignoranz oder Arroganz in der Berichterstattung über uns verblüffen, auch wenn diese über Ostdeutsche berichten wie über einen seltsamen Käfer, der auf dem Rücken liegt und nicht hochkommt, und auch wenn man sich dort lieber mit der eigenen, westdeutschen Realität beschäftigt und so das deutliche Nein vieler Menschen in den neuen Bundesländern mitverantworten muss: ich bleibe bei meinem Ja. Ja, ich bin Bundesbürgerin.

(Die ostdeutsche Geschäftsfrau Heide Gutsfeld managt in ihrer Heimatstadt Leipzig die Standortkampagne "Leipzig kommt!")

Stuttgarter Zeitung vom 26. September 1998, S. 51.

D 24: Der 3. Oktober

Für mich ist der 3. Oktober nicht so sehr der Tag der deutschen Einheit. Es ist der Tag der deutschen Freiheit. Natürlich hat diese Freiheit ihre Grenzen, auch ihre Schattenseiten. Aber es war Unfreiheit, die ich vor zehn Jahren aus erster Hand in Ost-Berlin erlebte, erniedrigende, quälende, lähmende Unfreiheit; und es ist Freiheit, die meine ehemaligen Nachbarn aus der Erich-Weinert-Straße am Prenzlauer Berg heute erleben, unbequeme, beängstigende, vielleicht sogar gefährliche Freiheit - aber trotzdem Freiheit.

Timothy Garton Ash; in: Die Zeit vom 7. Dezember 1990, 
S. 12. (Timothy Garton Ash ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Oxford.)

D 25: Ein alter Wunschtraum

Zeichnung: H.E. Köhler, 1964; wieder gedruckt in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Februar 1986, S. 9


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