Zeitschrift

Die sechziger Jahre

in der Bundesrepublik Deutschland

 

Baustein D

Die Studentenrevolte


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Inhaltsverzeichnis

 

Fun, Reform, Protest und Gewalt

Die Aktivitäten der Studenten und die Folgen ihrer Revolte sind zu einem Kennzeichen der sechziger Jahre geworden. Der Protest der Studenten forderte die Veränderungsbereitschaft, die in der deutschen Bevölkerung im Laufe der sechziger Jahre ohne Zweifel gewachsen war, noch einmal heraus und überforderte sie gleichzeitig, denn die Neue Linke "war antiautoritär und individualistisch, antiinstitutionalistisch und antibürokratisch ... (Sie) brachte Autoritätsstrukturen ins Wanken, erschütterte die Institutionenordnungen westlicher Demokratien, stellte das Repräsentationsmonopol der Parteien und intermediären Verbände in Frage ... (Sie) schloss als conditio sine qua non die politisch-soziale Emanzipation durch kollektive Selbstbestimmung und Selbstverwaltung ein. Die 68er-Bewegung ... problematisierte die moderne Lebensführung."1

Die Studentenbewegung war nur ein Teil der außerparlamentarischen Opposition, die in unterschiedlichem Gewand die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung begleitete. "In den 50er Jahren entwickelte sich aus der Kampagne gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik, die nach dem Einlenken der SPD gescheitert war, die Ostermarsch- und die Anti-Atom-Bewegung ... Am 18. Januar 1961 brachte die CDU-Regierung den ersten Entwurf einer Notstandsgesetzgebung im Bundestag ein. Gegen die Pläne einer Notstandsverfassung formierte sich in den kommenden Jahren ein breiter Widerstand ... Eine Verschärfung des innenpolitischen Klimas brachte 1962 die sogenannte "Spiegel-Affäre", in deren Verlauf Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein und ein Redakteur des Nachrichtenmagazins wegen Landesverrat verhaftet wurden. Dieser Vorwurf erwies sich jedoch als ein politischer Vorwand zur Ausschaltung eines missliebigen Kritikers".2

Freilich blieben die übrigen APO-Aktivitäten hinsichtlich ihrer Intensität und der Bandbreite ihrer Forderungen sowie hinsichtlich des Grades der Massenmobilisierung weit hinter der Studentenbewegung zurück, deren Protestpotential und Organisationsdichte alle bisherigen APO-Erscheinungen übertrafen. (Vgl. D 1 bis D 4).

1 Ingrid Gilcher-Holtey; in: Die Zeit vom 20. Juni 1997, S. 38

2 Carsten Seibold, 1988, S. 10

Während die Vorläufer sich gegen genau definierte politische Maßnahmen formierten, kämpften die radikalen Studenten für eine umfassende Alternative zum bestehenden politischen und Gesellschaftssystem - ein Ziel, das sie mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie nicht für realisierbar hielten, sondern für welches sie gänzlich neue Formen des politischen Lebens für unabdingbar ansahen.

Auch die theoretische "Unterfütterung" der Studentenrevolte war viel grundsätzlicher und umfassender als bei den früheren Verlautbarungen von Protest und Kritik. Eine Thematisierung dieser überaus komplexen philosophischen, politischen und soziologischen Programme der "geistigen Väter" der protestierenden Studenten würde die Schülerinnen und Schüler zweifellos überfordern; deshalb wird im Materialienteil auf eine Berücksichtigung entsprechender Texte verzichtet.3

Die Studentenbewegung griff wesentliche Elemente des Lebensgefühls der sechziger Jahre auf: Der Glaube an die Veränderbarkeit der Gesellschaft, das Zukunftsvertrauen, die fast träumerische Hingabe an utopische Ziele und die Bereitschaft, Neues auszuprobieren, waren damals nicht nur bei der studentischen Jugend weit verbreitet. Auch das Instrumentarium zur Durchsetzung der revolutionären Ziele fanden die Studenten - mindestens in Ansätzen - bereits vor; allerdings gelang es ihnen, Einstellungen und Verhaltensformen in spektakulärer Weise ihrem spezifischen Anliegen nutzbar zu machen; Spass-Aktionen, Happenings und wirkungsvolle Gags waren konstitutive Elemente des studentischen Protests. Hermann Glaser hat diese Protestformen mit dem Begriff "Ästhetik des Widerstandes" charakterisiert. "In der Entfaltung von Phantasie, im Ersinnen witziger, die konventionellen Schablonen der politischen Propaganda, Rhetorik und Organisation absichtsvoll durchbrechender Sprüche und Ausdrucksformen zeigt sich ... ein spielerisches Element".4

Die enge Verbindung zwischen Studentenbewegung und allgemeiner Aufbruchstimmung während der sechziger Jahre muss man bei der Beschäftigung mit den Materialien des Baustein D im Blick behalten, damit die Schülerinnen und Schüler die Studentenbewegung nicht isoliert, sondern als einen charakteristischen Wesenszug der sechziger Jahre wahrnehmen können.

3 Zur Weiterführung wird auf folgende Titel verwiesen: Wolfgang Kraushaar (Hg.), 1998 - Iring Fetscher: Vom Positivismusstreit zur Sozialphilosophie Marcuses; in: Hilmar Hoffmann/Heinrich Klotz (Hg.), 1987, S. 11-27

4 Kurt Sontheimer, 1983, S. 75

5 Reinhard Mohr; in: Der Spiegel vom 12. Oktober 1998, S. 73

6 Michael Jaeger; in: Freitag 45 vom 30 Oktober 1998, S. 1.


Abkehr von den 68ern

Plädoyer für eine radikale Entrümpelung des Programms von Bündnis 90/Die Grünen. Aus einem hessischen Positionspapier von 1999.1)

Bündnis 90/Die Grünen haben eine zweite Chance verdient und eine zweite Generation nötig. Die zweite Generation konstituiert sich nicht allein über das Alter, sondern über den Politikstil ...

Schluss mit den Geschichten von '68: Wir verstehen gut, dass der Gründergeneration der Schritt von der Bewegung zur Partei schwerfällt. Sahen sie sich doch selbst in den wilden Tagen von '68 und danach als Avantgarde einer gesellschaftsverändernden Bewegung. Sie haben damit viel erreicht, hierfür herzlichen Dank und eine Bitte: Hört auf, die Republik mit den Geschichten von damals zu nerven. Aktionsformen, die damals richtig waren, sind es heute noch lange nicht. Erwartet nicht von uns Jungen, dass wir so sind wie ihr. Ihr wart ja schließlich auch nicht wie eure Eltern.

Und noch eine Bitte: Habt mehr Mut, eure Fehler zuzugeben. Ja, ihr wart für ein anderes System. Ja, ihr habt den ebenso wackeren wie erfolglosen Kampf mit dem Kapital geführt. Ja, für euch waren Unternehmer Bestandteile des Reichs des Bösen. Das war damals falsch, es ist es noch heute und eigentlich wisst ihr das ja auch ... Und noch was, liebe 68er: Bringt euch nicht um die Früchte eurer eigenen Erfolge. Ihr habt damals gegen das klassische Familienbild und für neue Lebensformen gestritten. Ihr wart erfolgreich. Heute gibt es vielfältige Lebensformen mit Kindern mit und ohne Trauschein. Sie alle verstehen sich selbstverständlich als Familien. Jetzt kommt es darauf an, für diese Menschen Politik zu machen. Wer bei Familienpolitik immer noch an den Muff der 60er Jahre denkt, lebt an den Realitäten der Menschen vorbei.

Frankfurter Rundschau vom 28. Juni 1999, S. 10


1) Das Papier wurde inzwischen von zahlreichen Mitgliedern der Partei Bündnis 90/Die Grünen unterschrieben - darunter auch die Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir und Matthias Berninger.

Eine Erfolgsgeschichte?

Dreißig Jahre später bietet sich die Chance einer Aktualisierung: Die Bildung der rot-grünen Koalition nach der Bundestagswahl im September 1998 hat dazu geführt; dass die Generation der 68er heute in den obersten Institutionen der Bundesrepublik Deutschland Platz genommen hat; freilich sind die Denkmuster und die Ziele der 68er Bewegung längst "als Perspektiven abgeschrieben, glanzlos, ja scheinbar anachronistisch" geworden und es gehört zur "Ironie der Geschichte, dass durch die Regierungsübernahme der Generation Schröder/Fischer die Revolte von '68 endgültig historisiert und vom Fluch ihres immerwährenden Geltungs-, ja Wahrheitsanspruchs erlöst"5 und ohne großes Aufsehen von der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt worden ist. Dennoch handelt es sich um "eine erstaunliche Erfolgsgeschichte: Erst die Kultur umpflügen, dann sich über das gesellschaftliche Funktionssystem verteilen, zuletzt die Spitze erreichen!"6

Schaubild 3

Die Studentenrevolte 1967 bis 1969

UNVEREINBARKEIT DER STANDPUNKTE

UNMÖGLICHKEIT EINER KOMPROMISSLÖSUNG

Forderungen und Aktionen der Studenten

  • Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung
  • Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft
  • Abschaffung des parlamentarischen Systems
  • Massive Herausforderung der Staatsgewalt durch Demonstrationen, Besetzungen und Gewaltanwendung (Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols)

Reaktionen der Etablierten

  • Ablehnung der Fundamentalkritik und der sozialistischen Umgestaltung
  • Verteidigung der parlamentarischen Demokratie
  • Hinweis auf die Vorzüge der bestehenden Verfassungsordnung
  • Toleranz gegenüber einzelnen Forderungen
  • Einsatz der Polizei

Unterrichtspraktische Hinweise

Bereits bei der Einführung in diesen Baustein wird man die Klasse darauf vorbereiten, dass die Konfrontation unterschiedlicher Urteile über die Studentenbewegung im Vordergrund steht. Folgende Leitfrage wird empfohlen: War die Studentenbewegung der Jahre 1967 bis 1969 eher ein positives Element oder eher eine Gefahr in der deutschen Nachkriegsentwicklung? Diese Frage dient als Strukturierungshilfe für den Durchgang durch die Materialien des Bausteins D.

Die im Laufe des Unterrichts gefundenen Pro- und Contra-Argumente werden sukzessive in ein zweispaltiges Plakat an der Pin-Wand des Klassenzimmers eingetragen.

Es wird empfohlen, zunächst die Aktionsformen und das Erscheinungsbild der Studentenrevolte zu erarbeiten (D 1 bis D 3; vgl. D 6); erfahrungsgemäß zeigen die Schülerinnen und Schüler ein lebhaftes Interesse an dem Happening-Charakter der studentischen Aktivitäten. Dabei hat sich folgender Rollenwechsel bewährt: Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, eine schriftliche Stellungnahme zum Auftreten der Studenten aus der Sicht eines provozierten Lehrers, Professors oder Vaters zu verfassen.

Die fundamentale und radikale Herausforderung der parlamentarischen Demokratie durch die Studenten und die unterschiedlichen Reaktionen der Etablierten konfrontiert man in einem Tafelbild, das zugleich die Unvereinbarkeit der Standpunkte (und damit die Zwangsläufigkeit des Scheiterns der Rebellion) verdeutlicht; als Grundlage dienen die Materialien D 4 bis D 13.

Die Interpretation der Ansprachen von Gustav Heinemann, Kurt-Georg Kiesinger und Willy Brandt kann man durch die Stellungnahme Franz Schneiders strukturieren, der jegliche Äußerung von Sympathie gegenüber den Provokationen der Studenten schroff ablehnt (D 11, D 12, vgl. D 16). Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, die dokumentierten Redeauszüge hinsichtlich des jeweiligen Grades der "Anpassung" gegenüber den studentischen Forderungen zu ordnen. In der Abschlussdiskussion über die eingangs gestellten Problemfragen wird der Aspekt des Tolerierens bzw. der gewaltsamen Unterdrückung eine wesentliche Rolle spielen (vgl. auch D 13, D 14).

Mögliche Aufgaben

D 1: Beschreiben Sie die einzelnen Bilder, und zeigen Sie die Eskalation der Protestbewegung zwischen 1967 und 1968 auf. Erörtern Sie, weshalb die Studentenbewegung sich zu einer Herausforderung für die bestehende Gesellschafts- und Verfassungsordnung entwickelt hat.

D 2 und D 3 (vgl. D 6): Stellen Sie die Methoden des Studentenprotestes zusammen.

D 4: Diskutieren Sie, ob die Bezeichnung "Revolution" auf die Aktionen und Forderungen der Studenten passt.

D 5 bis D 10: Stellen Sie die Begründungen der 68er-Bewegung für den Protest zusammen. Nehmen Sie kritisch zur Rechtfertigung der Revolte Stellung. Zeigen Sie anhand der Dokumente auf, inwiefern die Gefahr bestand, dass die Revolte in terroristische Handlungen ausartete.

D 11 bis D 14: Erarbeiten und beurteilen Sie die unterschiedlichen Reaktionen der politisch und gesellschaftlich Etablierten gegenüber der Studentenbewegung. Erörtern Sie die These, dass es zu einem wechselseitigen Hochschaukeln der Eskalation gekommen sei.

D 15 bis D 18: Diskutieren Sie abschließend die eher positiven und die eher negativen Urteile über die 68er-Bewegung zusammen; versuchen Sie, einen eigenen Standpunkt zu formulieren.


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