BAUSTEIN B

Die neuen Balkankriege


Die Auflösung Jugoslawiens ab Mitte der achtziger Jahre hatte im wesentlichen drei Ursachen: Slobodan Milosevic verfolgte nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der serbischen KP das Ziel, die Entscheidungsprozesse im Staats- und Parteiapparat zugunsten der Serben zu zentralisieren. Ausdruck dafür war die schrittweise Rücknahme der Autonomie des Kosovo und der Woiwodina, die bis 1990 serbischer Direktverwaltung unterstellt wurden.

Der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa nahm auch Jugoslawien nicht aus. Das Monopol der jugoslawischen KP wurde zunehmend in Frage gestellt. Es zeigte sich nun, daß die Herrschaft Titos eine Klammer gewesen war, die auseinanderstrebende ethnische Identitäten zusammengehalten hatte. Die wirtschaftlichen Probleme Jugoslawiens wurden durch regionale Entwicklungsunterschiede zwischen dem besser entwickelten Norden (Slowenien und Kroatien) und den ärmeren Teilrepubliken, besonders Serbien, verschärft.

Diese Faktoren begünstigten die Bildung von Oppositionsgruppen außerhalb Serbiens, die die serbischen Herrschaftsansprüche ebenso ablehnten wie die kommunistische Ideologie. Sie erzwangen freie Wahlen, bei denen sich 1990 in Slowenien und Kroatien bürgerlich-nationalistische Parteien durchsetzten. Nur in Serbien und Montenegro konnte die KP eine Dreiviertelmehrheit, in Makedonien eine relative Mehrheit erreichen. In Bosnien-Herzegowina erhielten die ethnischen Parteien rund drei Viertel aller Stimmen. Mit der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens im Sommer 1991 wurde die Auflösung Jugoslawiens besiegelt. Der Nationalstaatsgedanke feierte in diesem Teil Europas Wiederauferstehung. Andernorts wurde die Idee eines Vereinten Europa gestärkt, so durch die Maastricht-Akte und die Beitrittswünsche vieler postkommunistischer Staaten.

Slowenien und Kroatien

Da sich die von Serben beherrschten politischen Institutionen Jugoslawiens der Unabhängigkeit widersetzten, kam es im Juni 1991 zu einem zweiwöchigen Krieg mit Slowenien, der mit einem von der Europäischen Union vermittelten Abzug der Jugoslawischen Volksarmee im Juli 1991 endete. Erleichtert wurde diese Lösung, da der serbische Bevölkerungsanteil (mit etwa drei Prozent) in Slowenien gering war und die Serben nicht in geschlossenen Siedlungsgebieten lebten. Anders war es in Kroatien, wo die Serben ihre Siedlungsgebiete entlang der bosnischen Grenze schon 1990 in der "Autonomen Republik Krajina" zusammengeschlossen hatten und sich der Unabhängigkeit Kroatiens gewaltsam widersetzten. Die kroatische Regierung unter Präsident Franjo Tudjman hatte sich zuvor geweigert, den ca. 13 Prozent Serben im Land Autonomierechte zu gewähren. Unterstützt von der Bundesarmee, führten serbische Freischärler ab Juli 1991 Krieg gegen die kroatische Territorialverteidigung und hielten zeitweise fast 40 Prozent des kroatischen Territoriums besetzt. Streitpunkt war die Grenzziehung Kroatiens. Kroatien bestand auf der Beibehaltung der alten Republikgrenze als nationaler Außengrenze, die kroatischen Serben forderten die Möglichkeit, sich aus dem kroatischen Staat herauslösen und sich mit Serbien und Montenegro sowie den serbischen Gebieten in Bosnien-Herzegowina zusammenschließen zu können.

Bei ihren Vermittlungsversuchen stand die Europäische Union vor einem Dilemma. Überrascht von der Heftigkeit des Konflikts - und vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion - forderte sie zunächst, die Grenzen Jugoslawiens, die ein Bestandteil der europäischen Nachkriegsordnung waren, zu erhalten - und stützte so die Position Belgrads. Einige Staaten, Deutschland vor allem, wollten den Kroaten jedoch nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker das Recht auf Unabhängigkeit einräumen, ungeachtet der Tatsache, daß dies der serbischen Minderheit in Kroatien vorenthalten worden wäre. Diese Uneinigkeit, gepaart mit der fehlenden Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen zu verhängen, erschwerten die Vermittlung der Europäischen Union. Zudem schienen alte Kriegsallianzen wieder zum Vorschein zu kommen: Deutschland unterstützte eher die Kroaten; Frankreich und andere Staaten mehr die Serben. Es mag auch sein, daß Deutschland wegen seiner föderalistischen Tradition den Autonomiebestrebungen der Kroaten und Slowenen eher zuneigte, während Frankreich und Großbritannien mit ihrer zentralistischen Tradition dem serbischen Ziel näherstanden, Jugoslawien als Staat zu erhalten. Die Unfähigkeit der Europäer, eine gemeinsame Politik zu formulieren und entschlossen zu vertreten, lähmte ihre Vermittlungsversuche. Erst nachdem die kroatischen Serben ihre Kriegsziele erreicht hatten, gelang es, einen Waffenstillstand auszuhandeln, zu dessen Überwachung im Januar 1992 die Blauhelme der UNPROFOR entsandt wurden.

Bosnien-Herzegowina

Nach der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens standen die bosnischen Muslime (Eigenbezeichnung: Bosniaken) vor der Frage, sich im verbleibenden Jugoslawien der serbischen Minderheit zu unterwerfen oder selbst die Unabhängigkeit zu erklären. In einer Volksabstimmung, die von den bosnischen Serben boykottiert wurde, entschieden sie sich für die Unabhängigkeit. Die bosnischen Serben strebten in einen großserbischen Staat. Auf dem Territorium der neuen Republik Bosnien-Herzegowina bildeten sich die halbstaatlichen Gebilde der serbischen "Republika Srpska" und der "Kroatischen Gemeinschaft Herceg-Bosna". Damit setzte sich der Konflikt um ethnische und territoriale Grenzen innerhalb des jungen Staates fort. War der Zusammenschluß ethnischer Gebiete in Kroatien noch vergleichsweise einfach gewesen, so siedelten in Bosnien-Herzegowina die Bevölkerungsgruppen zumeist in gemischten Siedlungsgebieten, in denen eine Gruppe oft nur die relative Mehrheit stellte. Diese Siedlungsstruktur nach der Art eines "Leopardenfells" (Adolf Karger) erschwerte die Suche nach Lösungen. Die Bosniaken hielten zunächst an der Idee einer multiethnischen Gesellschaft fest, unterstützt von UN und EU, die "ethnische Säuberungen" nicht hinnehmen wollten. Dagegen setzten sich Serben und Kroaten mit brutaler Gewalt (die später von allen Seiten angewandt wurde) für die Schaffung ethnisch einheitlicher Gebiete ein.

Die Vereinten Nationen und die Europäische Union wollten als Vermittler den Einsatz von Bodentruppen vermeiden und beschränkten sich deshalb auf drei Maßnahmen zur Eindämmung des Konflikts:

1. Humanitäre Hilfe

2. Diplomatische Vermittlung; als Druckmittel diente ein Embargo gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (noch bestehend aus Serbien und Montenegro) und ein Flugverbot für Maschinen der Jugoslawischen Volksarmee über Bosnien-Herzegowina.

3. Die Einrichtung von Sicherheitszonen durch die Vereinten Nationen (Sarajewo, Tuzla, Bihac, Srebrenica, Gorazde und Zepa) zum Schutz der Zivilbevölkerung.

Minderheiten in den jeweiligen Siedlungsgebieten wurden gezielt getötet oder vertrieben, um die eigene Verhandlungsposition zu verbessern. Die von den Vermittlern UN und EU entwickelten Friedenspläne nahmen in zunehmendem Maße die Ergebnisse dieser sogenannten "ethnischen Säuberungen" hin. Das Mandat der UN-Truppen wurde ständig erweitert, ohne daß Handlungsspielraum und Ausrüstung der Truppen angepaßt wurden - beginnend beim Schutz des Flughafens von Sarajewo über die Sicherung von Hilfstransporten bis zum Schutz der Sicherheitszonen. Das Schicksal der Blauhelme, die zuletzt von den bosnischen Serben als Geiseln mißbraucht wurden, zeigte die Unfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft, ihren Vermittlungsversuchen durch angemessene Sanktionen Nachdruck zu verleihen.

Im November 1995 vereinbarten die Präsidenten Serbiens (Milosevic), Kroatiens (Tudjman) und Bosniens (Izetbegovic) unter Vermittlung der USA auf dem Luftwaffenstützpunkt Dayton in Ohio ein Abkommen, das den Krieg beendete. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina hatte 200 000 Tote gefordert, 25 000 Menschen werden vermißt, mehr als zwei Millionen flohen oder wurden vertrieben.

Die Voraussetzungen, die das Dayton-Abkommen schließlich ermöglichten, waren:


Unterrichtspraktische Hinweise

Baustein B soll die Ursachen des Krieges veranschaulichen und die Ziele der Kriegsparteien deutlich machen. Er ist so aufgebaut, daß ein Einstieg in das Thema auch ohne großen historischen Rückgriff möglich ist.

B 1 und B 2 zeigen am Beispiel einer Familie, wie vielschichtig ethnische Beziehungen im ehemaligen Jugoslawien sein können. Die Schüler können die unterschiedlichen Nationalitäten nennen und anhand des Schaubilds die Kriegskonstellationen erarbeiten. Die Karte B 3 zeigt die Teilrepubliken des früheren Jugoslawien und ihre ethnische Zusammensetzung. Dabei ist zu erkennen, daß Slowenien als ethnisch relativ einheitliche Republik den Serben kaum Anlaß bot, die Republik für einen serbischen Staat zu beanspruchen. In Kroatien hingegen gab es mit der Krajina (B 7) und Ostslawonien relativ geschlossene serbische Siedlungsgebiete, die den Anschluß an einen serbischen Gesamtstaat fordern konnten. Eine solche Abspaltung, die 1990/91 tatsächlich erfolgte, hatte Konsequenzen für Bosnien-Herzegowina (B 11).
B 11

Dazwischen

 

Zeichnung: Burkhard Mohr, 1995

Weiter kann man mit der Karte B 3 erkennen, daß nicht nur Bosnien-Herzegowina ein Völkergemisch aufweist, sondern daß auch Serbien selbst (in der Woiwodina und im Kosovo) ethnische Minderheiten einschließt und damit alles andere als ein rein serbischer Staat ist. Mit Makedonien findet sich eine weitere Teilrepublik, die eine starke nationale Minderheit hat (die Albaner), die jedoch wegen ihres geringen Anteils an Serben nicht zum Ziel großserbischer Ansprüche wurde.

Die Tabelle B 4 kann dazu dienen, den unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand vor dem Krieg als eine der Konfliktursachen zu erkennen. Die nördlichen Republiken wiesen vor Kriegsbeginn weit günstigere wirtschaftliche Daten auf als der Rest Jugoslawiens. Das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle ist deutlich; vor diesem Hintergrund können die neuen Balkankriege auch als ein Verteilungskonflikt, z. B. um den Zugang zum europäischen Markt, interpretiert werden. Wichtig ist aber, die wirtschaftlichen Verhältnisse als ein zusätzliches, nicht als das konfliktauslösende Element zu benennen. Die Karikatur B 5 bietet ein anschauliches Bild der Auflösung des jugoslawischen Staatsverbands, das die Frage nahelegt, weshalb sich die Lämmer vom Mutterschaf abwenden. Zum Verhalten Montenegros ist zu erklären, daß die Montenegriner sich als ethnische Slawen den Serben verbunden fühlen.

Mit Hilfe des Textes B 7 kann erstmals nach der Berechtigung der politischen Ziele gefragt werden. Der Konflikt zwischen den widerstreitenden Elementen des Völkerrechts (Selbstbestimmungsrecht der Völker versus Unverletzlichkeit staatlicher Grenzen) kann erörtert werden. Mit den Karikaturen B 6 (a, b) werden die serbischen und die kroatischen Ängste beschrieben.

a) Der bedrohliche Norden ...       b) ... und die Panzer der Serben

So sehen die Serben die
"kroatisch-slowenische Gefahr"
aus dem Norden. In der Mitte
liegt, schutzlos, Bosnien und

Herzegowina.
Politika, 10.10.1990, nach:
Osteuropa 41 (1991), S. A 281

So - noch circa 5 Waffenstill-
stände und wir haben Kroatien
eingesackt!
Zeichnung: Freimut Wössner



Bei Wössners Zeichnung und bei Haitzinger (B 8) wird die Rolle der internationalen Staatengemeinschaft zum Thema: EU und UN bemühen sich zwar, die Kriegsparteien zur Räson zu bringen, aber die von ihnen angewandten Mittel sind der Lage nicht angemessen.


Zeichnung: Horst Haitzinger, 1992

Mit den Texten B 9 und B 10 kann ein prononcierter serbischer Standpunkt erarbeitet werden. Die in den Texten zum Ausdruck kommende Selbsteinschätzung der Serben sollte aber kritisch hinterfragt werden.

Der Text B 13 liefert einen Rückblick auf die multiethnische Realität im "alten" Bosnien-Herzegowina und zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede während der Zeit der verordneten Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Mit den Texten kann man die Frage der bosnischen Identität untersuchen und die Idee eines multi-ethnischen Staates Bosnien-Herzegowina (wie sie die Bosniaken verfolgen) dem Konzept ethnisch "reiner" Staaten (das Serben und Kroaten propagieren) gegenüberstellen.

B 15 bis B 18: Hier stehen die Auswirkungen des Krieges auf die Menschen im Mittelpunkt. B 15, B 16 und B 17 zeigen, ausgehend von einem Plan des belagerten Sarajewo, die Grausamkeit des Krieges für die Zivilbevölkerung, wenn Bombardements und Heckenschützen ("Snipers") den Alltag in der Stadt bestimmen.


1995: Unter dem Beschuß von serbischen Heckenschützen rennen Zivilisten um ihr Leben.
Abb. aus dem Band: Zoran Filipovic; Hans Koschnick; Claus Leggewie: Entseeltes Land, Freiburg, Basel, Wien: Herder 1995, S. 57  Copyright Foto: Filipovic

Ein Moslem auf den Trümmern einer zerstörten Moschee im ehemals von serbischen Rebellen besetzten Sarajewo-Vorort Ilijas, aufgenommen am 2.5.1996. Vor der Übergabe der serbisch kontrollierten Stadtteile an die moslemisch-kroatische Föderation im März 1996 haben abrückende Serben einen Ort der Verwüstung geschaffen.
Bild: dpa


Die Karikatur B 18 verweist auf die Konsequenzen der "ethnischen Säuberungen": Flüchtlingstrecks auf dem Balkan. Die Karikatur B 19


Was kreuzen wir denn heute an?
Zeichnung: Horst Haitzinger, 1994

und der Text von Butros Ghali (B 20) thematisieren die Mitverantwortung der internationalen Gemeinschaft und leiten damit zum nächsten Baustein über.


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