Einleitung
Der weltweite Siegeszug demokratisch legitimierter politischer Ordnungen wird
heute allgemein konstatiert. »Demokratie«, so Claus Offe, gilt als »die
›moderne‹ Organisationsform politischer Herrschaft«. Kaum ein Staat verzichtet
insofern darauf, sich seinen Bürgern und der Weltgesellschaft als »intakte
Demokratie« zu präsentieren. Nordkoreas Kim Jong II, Simbabwes Diktator Robert
Mugabe, die afghanischen Taliban sowie regional und lokal agierende Kriegsherren
fragmentierter Staaten – sie alle waren und sind in der ihnen eigenen, oft auch
psychopathisch angereicherten Fantasiewelt glühende Demokraten. Es ist von daher
notwendig zu unterscheiden, ob es sich bei der Betrachtung demokratischer
Staatsformen um wirkliche Demokratien handelt oder nur um Nenndemokratien.
Gerade auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und des von den
Nationalsozialisten propagierten Führerprinzips wird deutlich, dass die
demokratische Staatsform keine Selbstverständlichkeit ist und erkämpft, gewollt
und von jeder Generation neu akzentuiert werden muss.

Gerhard Mester
Demokratische Systeme rücken den einzelnen Bürger, den Menschen in seiner
Würde und Einzigartigkeit in den Mittelpunkt. Dieser Auffassung entsprechen die
verfassungsmäßig verbrieften Grund- bzw. Menschenrechte, die in Diktaturen außer
Kraft gesetzt sind. Diktaturen jedweder Form verstoßen somit fundamental gegen
den Wesensgehalt der partizipativen Demokratie, nach welcher Herrschaft nur
legitim ist, wenn sie vom Willen der Beherrschten getragen ist. Demokratie steht
und fällt somit mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich in das
gesellschaftliche und politische Geschehen aktiv einbringen.
Einer der Schwerpunkte des vorliegenden Heftes ist es, die intensive
Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit den Möglichkeiten
demokratischer Teilhabe in ihrem unmittelbaren schulischen und kommunalen Umfeld
und auch darüber hinaus im Sinne von Interessenartikulation und -aggregation mit
geeigneten Materialien zu forcieren. So wird grundsätzlich die Frage nach den
Partizipationsmöglichkeiten in einer Demokratie aufgeworfen.
Die Schwerpunktsetzung auf partizipative Formen demokratischen Agierens lässt
sich auch an anderen Beispielen politischer Beteiligung festmachen, etwa im
schulischen Bereich im Rahmen der Schülermitverwaltung, von Schülerparlamenten
oder im weiten Lernfeld kommunaler Interessendurchsetzung (z.B. Jugendräte).
Damit Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Interessen zu erkennen, diese zu
artikulieren, gegenüber anderen zu vertreten sowie sich zum Zwecke der
Interessendurchsetzung zusammenzuschließen, ist auch psychosoziale Basisarbeit
im Sinne von Empowerment (Er-Mächtigung/Stärkung des Selbstwertempfindens)
unumgänglich. Lebendige Demokratien benötigen selbstbewusste junge Menschen. Die
Fortentwicklung der deutschen sowie europäischen Wertegemeinschaft ist ohne das
engagierte Involviertsein der jungen Generation nicht möglich.
Was leisten Demokratien?
»Die Demokratie ist die schlechteste Staatsform, ausgenommen alle anderen.«
Diese Aussage wird dem ehemaligen britischen Premierminister Winston Churchill
zugeschrieben. Churchills Zitat zielt auf die mit demokratischen Verfahren
verbundenen Schwerfälligkeiten, auf das Erarbeiten von Kompromisslösungen, auf
die Einmischungen und Einsprüche der zu einer pluralen Gesellschaft gehörenden
Interessengruppen. Nicht zuletzt meint Churchill damit auch die Mühen und
vielfältigen Bemühungen, welche Demokratien von befehlsgeleiteten
Führerdiktaturen unterscheiden. So müssen sich die Bürgerinnen und Bürger
demokratischer Gesellschaften, um am politischen Geschehen teilnehmen zu können,
eben auch Wissen über die für demokratische Systeme bestimmende Verrechtlichung
des öffentlichen und privaten Lebens angeeignet haben. Um sich einzumischen, um
politisch aktiv zu werden, sind von daher umfassende Kenntnisse nötig.
Winston Churchill bringt in seiner Aussage einen weiteren wichtigen Sachverhalt
auf den Punkt: Nirgendwo gibt es eine perfekte Demokratie, aber trotz
allgegenwärtiger Widrigkeiten und auch kritischer Einwände kennen wir kein
besseres politisches System als die Demokratie. Demokratisch organisierte
Systeme bilden von daher die beste Gewähr dafür, dass Konflikte friedlich
geregelt werden können, und zwar sowohl auf innergesellschaftlicher Ebene wie
auch im Rahmen der internationalen Beziehungen. Die Sicherung des Friedens nach
innen und außen, im Extremfall die Vermeidung von Aufständen und Bürgerkriegen
bzw. zwischenstaatlichen Kriegen, ist somit ein vordringliches Kernelement
demokratischer Systeme. »Demokratien führen keine Kriege gegeneinander«, so der
Politologe Ernst-Otto Czempiel.
Herausforderungen der Demokratie
Ein einseitiges Loblied auf die Demokratie anzustimmen und deren Schwachstellen
auszublenden wäre mit Blick auf den in Deutschland vorhandenen Reformstau und
auf schwerwiegende gesellschaftliche Probleme, wie etwa die seit zwei
Jahrzehnten dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit, verfehlt. Neuerdings wird von
diversen Autoren gar die Frage aufgeworfen, ob sich die vielbeschworene »good
governance« möglicherweise weniger in plural-demokratisch verfassten
Gesellschaften realisieren lasse als vielmehr in autoritativ-pragmatischen
politischen Systemen, deren kurze Entscheidungswege bei der Durchsetzung von
Reformen als Systemvorteil gewertet werden (z.B. Stadtstaat Singapur,
chinesische Führung unter Staatspräsident Hu Jintao und Ministerpräsident Wen
Jiabao). Nicht von ungefähr konstatiert der amerikanische Ökonom Lester Thurow
bewundernd: »China hat eine effektive Regierung, die Strategien entwerfen und
Entscheidungen treffen und durchsetzen kann.« Wird also China durch seine auf
Schnelligkeit und Effizienz ausgerichtete Regierung den Westen und vor allem
auch die Vereinigten Staaten von Amerika in den kommenden Dekaden ökonomisch
überholen und damit zur neuen Weltmacht Nummer Eins aufsteigen? Weitgehend
unstrittig ist unter Demokratieforschern, dass demokratische Herrschaft »in
hohem Maße kontextabhängig, insbesondere von den Bedingungen wirtschaftlicher
Entwicklung, sozialer Integration, politischer Kultur« ist (Rainer-Olaf
Schultze).
Wenn sich also die ökonomischen Bedingungen in Deutschland verschlechtern, die
Menschen weiterhin durch ein hohes Arbeitsplatzrisiko und durch
Massenarbeitslosigkeit verunsichert sind, so könnte auch das liberaldemokratisch
und marktwirtschaftlich-sozial geprägte politische System an Zuspruch verlieren.
»Das Vertrauen in die ganze politische Klasse ist heute geringer als jemals in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Man traut den Politikern den Willen zur
Karriere zu, nicht aber genug Tatkraft für das Allgemeinwohl«, argumentieren
Ex-Bundeskanzler Schmidt (SPD) und der ehemalige CDU-Fraktionsvorsitzende Rainer
Barzel in einem gemeinsamen FAZ-Artikel im Mai 2005. »Auch deshalb breiten sich
Ängste und schlechte Stimmungen aus. Die Titel, unter denen die
Fernseh-Talkshows in den Programmen angekündigt werden, sind in großer Fülle
negativ, sie suggerieren eine negative Sichtweise. Ein gewählter Politiker aber,
der sich an Fernsehrunden unter Titeln beteiligt wie ›Deutschland bankrott‹ oder
›Land ohne Zukunft‹, der vergibt seine Würde. Und weil die Talkshows nicht zum
Handeln und zur Veränderung führen, vergibt er unbemerkt und schrittweise seine
Glaubwürdigkeit.« Haben die beiden gestandenen Politiker Schmidt und Barzel also
Recht, wenn sie bedeutende demokratische Institutionen, wie etwa die tragende
Rolle des Parlaments, durch überzogene Anpassungsleistungen der Politiker an die
»Mediendemokratie« gefährdet sehen? Haben sie Recht, wenn sie der
Demokratieschelte hinzufügen, dass Politiker oftmals den Weg des geringsten
Widerstands gehen, da man oft leichter gewählt werde, wenn man den Wählern nur
das sage, was diese gern hören wollten?
Zur Konzeption des Heftes
»Der Geist der Demokratie kann nicht von außen aufgepfropft werden. Er muss von
innen kommen«, sagt Mahatma Gandhi. Ist es von daher nicht vermessen, Kinder und
Jugendliche zur Demokratie erziehen zu wollen? Ein auf ausschließlich kognitive
Elemente ausgerichteter Politikunterricht wird wohl kaum den von Demokratie
durchdrungenen Staatsbürger hervorbringen. Vielmehr müssen emotionales
Involviertsein und kognitives Dazulernen ineinander greifen, um
Verstehensprozesse in Gang zu setzen und um als Zielperspektive »Stolz auf
unsere Demokratie« hervorzubringen. Dabei gilt es, Verhaltens- und Aktionsweisen
zu fördern, die die ganze Schülerpersönlichkeit einbeziehen.
Dieser Grundauffassung entsprechend sind die Unterrichtsmaterialien für dieses
Heft (Bausteine A bis D) darauf ausgerichtet, sowohl kognitive Kompetenzen zu
erwerben wie auch tiefergehende, emotional angereicherte (Er-)Lebensformen von
Demokratie hervorzurufen und zu fördern. »Erziehung zur Demokratie« bedeutet
demnach, Demokratiekompetenz erwerben und Demokratie (er-)leben durch
- den Erwerb von Wissen zum Thema Demokratie
- das Erkennen, Artikulieren und Durchsetzen eigener Interessen
- das Ausbilden und Trainieren kommunikativer Fähigkeiten
- das Pflegen einer produktiven Streitkultur und das Erproben
kompromissorientierter Konfliktlösungsmuster
- die Entwicklung von Verantwortung und Gemeinsinn für das Ganze
- das Sich-Hineinversetzen in unterschiedliche Sichtweisen, Interessen und
Rollen
- die Erfahrung von Intensität und die Entwicklung von Begegnungsmentalität
- die Schaffung von Bewusstsein und Empfindungstiefe für werteorientiertes
Handeln
- die Wertschätzung für den hohen, vor allem auch zeitlichen Aufwand für
demokratische Prozesse
- das Erlangen von Selbstvertrauen und auf dieser Grundlage die Entwicklung
von Freude am Gestalten des politischen Umfeldes.

Gerhard Mester
Allein schon die kaum mehr zu überblickende Zahl an älteren und neuen
Publikationen zur Demokratiethematik lässt ermessen, welch vielschichtiges und
weitgefasstes Spektrum diese Themenstellung umfasst. Für das vorliegende Heft
wurde eine für den modernen Unterricht geeignete Konzeption erarbeitet, anhand
derer die für Schüler schwer zugängliche klassische Institutionenlehre von der
Entstehung der ersten politischen Gemeinschaften hergeleitet wird, um so
aufzuzeigen, wie bestimmte Verhaltensweisen sich letztendlich zu Gewohnheiten
verdichten und institutionellen Charakter annehmen. Die Ausbildung der Fähigkeit
der Schüler zur letztendlich selbstständigen Unterscheidung von demokratischen,
autokratischen oder gar totalitären Gemeinwesen ist ein weiterer Schwerpunkt des
Konzepts.
Ein wichtiges Ziel ist dabei auch die altersgerechte Vermittlung der politischen
Ideengeschichte. Gemeinhin werden die großen Philosophen – abgesehen von der
gymnasialen Oberstufe – als ungeeignet für schulische Bearbeitungsformen
betrachtet. Hier soll jedoch versucht werden, dass alle jungen Menschen,
unabhängig von ihrer Schulform und ihrem Alter, mit der abendländischen
Geisteskultur vertraut gemacht werden können.
Die Verwendung von spielähnlichen Arbeitsformen nimmt im vorliegenden Heft
großen Raum ein. Durch die Übertragung spielerisch gewonnener Einsichten und
Erfahrungen auf reale Sachverhalte lassen sich kognitive Widerstände der Schüler
überwinden. Aus didaktischer Sicht ist es ein wichtiges Anliegen des Heftes, den
Lehrpersonen eine möglichst breite Methodenvielfalt zur Verfügung zu stellen.
Der Ansatz des Heftes beruht darauf, von konkreten Lebenssituationen der Schüler
ausgehend (Baustein A), einen weiten Bogen hin zu abstrakten Inhalten der
Demokratieforschung (Baustein D) zu spannen. Baustein A sucht die
Alltagsprobleme der Schüler zu hinterfragen, um so die dort zugrunde liegenden
demokratischen oder auch nichtdemokratischen Wertvorstellungen und Verfahren
aufzuzeigen. Davon ausgehend soll die Überleitung zu Baustein B geschaffen
werden, in welchem Betätigungsfelder auf kommunaler Ebene im Mittelpunkt stehen,
um die Schüler zur aktiven Mitgestaltung ihrer Umwelt anzuregen. Die in Familie,
Clique, Klasse und Kommune identifizierten Strukturen und Verhaltensmuster
werden nunmehr in Baustein C erweitert und in einen gesamtgesellschaftlichen
Kontext überführt. Mit den gewonnenen Erkenntnissen lassen sich so politische
Entscheidungsfindungsprozesse als das nachvollziehen, was den Schülern schon
ansatzweise aus ihrem privaten Lebensumfeld geläufig ist.
Die pluralistisch-freiheitliche Ordnung als Grundlage demokratischer Staaten
soll durch Baustein C besonders hervorgehoben werden. Die für das System der
Bundesrepublik konstitutive politische Ordnung findet in allen vier Bausteinen
Berücksichtigung, in besonders aufschlussreicher Weise jedoch in Baustein D.
Doch darüber hinaus soll in Baustein D das Blickfeld auch auf die internationale
Ebene ausgeweitet werden. Dass Demokratie auch als »embedded democracy«
verstanden werden muss, erschließt sich etwa durch den Diskurs Olivers und
Kathrins über das Thema »Wie sozial soll die deutsche Demokratie sein?« (D8).
|