Zeitschrift 

Türken bei uns

Baustein A

Ihre Heimat
 

Heft 3/2000 , Hrsg.: LpB

 

Inhaltsverzeichnis


Baustein A stellt das Land vor, aus dem die Türken zu uns kamen. Die meisten türkischen Arbeitskräfte stammten ursprünglich aus den unterentwickelten Regionen des Ostens und Südostens der Türkei. Viele hatten bereits eine Binnenwanderung in die großen Städte vor allem der Westtürkei (Istanbul, Izmir) hinter sich. Ein starkes Bevölkerungswachstum und fehlende wirtschaftliche Dynamik verschärften die Arbeitslosigkeit in der Türkei. Die Auswanderung bot ein Ventil, um soziale Spannungen abzubauen. Die Überweisungen der "Gastarbeiter" waren als Ausgleich für das türkische Handelsbilanzdefizit willkommen. Zudem hoffte man zunächst, dass im Ausland eine qualifizierte türkische Facharbeiterschaft herangebildet würde, die bei ihrer Rückkehr einer Industrialisierung der Türkei zugute käme. Seit der Ankunft der ersten "Gastarbeiter" aus Anatolien hat sich die Türkei sehr stark gewandelt. Manche Probleme, die damals durch die Migration gelöst werden sollten, sind geblieben, andererseits eröffnete der Wandel auch gute mittel- und langfristige Entwicklungschancen. 
Schwerpunkt des Bausteins sind die wirtschaftlichen Probleme und Perspektiven der Türkei als Schwellenland. Der Begriff des Schwellenlandes steht für ein Entwicklungsland, das in seiner Entwicklung schon relativ weit fortgeschritten ist: Industrialisierungsgrad und Lebenserwartung steigen, die Analphabetenrate nimmt ab, doch die soziale Entwicklung des Landes kann mit der wirtschaftlichen nicht mithalten. Ein wichtiges Merkmal von Entwicklungs- und Schwellenländern ist die ungleiche Entwicklung zwischen den einzelnen Regionen dieser Staaten. Eine solche  Disparität in Form eines West-Ost-Gegensatzes ist innerhalb der Türkei besonders stark ausgeprägt und zählt zu den Ursachen von Migration sowohl innerhalb des Landes als auch ins Ausland.
 
Die Türkei hat zwei Gesichter
 
Der deutsche Pauschaltourist wird bei einer Türkeireise üblicherweise nur die moderne Welt des Fremdenverkehrs in der Westtürkei kennen lernen. Er lebt dort im Vier- oder Fünf-Sterne-Hotel, genießt den Aufenthalt bei angenehmem Klima am Pool und an sauberen Stränden (A 1). Bei Ausflugsfahrten sieht er im Wesentlichen moderne Großstädte (A 5), gepflegte antike Sehenswürdigkeiten (A 2), auf dem Lande vermitteln bewässerte Zitrushaine, Gemüse- oder Baumwollfelder den Eindruck von Fruchtbarkeit und moderner Landwirtschaft. 
Doch die Türkei hat zwei Gesichter. Der gut entwickelten und von der Natur begünstigten Westtürkei steht der periphere rückständige Osten gegenüber: vom Tourismus weitgehend unberührt, mit wenig Industrie, dafür mit einer arbeitsintensiven, rückständigen Landwirtschaft (A 3, A 4). Mögliche Leitfragen für die Bearbeitung der Materialien sind:
  • Woran lässt sich das West-Ost-Gefälle festmachen? Worin liegen die Ursachen?
  • Inwieweit ist das Gefälle durch physisch-geographische Faktoren, die Lage, die Geschichte, die Wirtschaftspolitik oder anderes bedingt? 
  • Welche Auswirkungen und Folgen haben diese regionalen Gegensätze?
  • Welche Maßnahmen werden ergriffen, um dieser Entwicklung gegenzusteuern?

Die physisch-geographische Karte A 6 oder eine entsprechende Atlaskarte zeigt, dass die Türkei zu 90 Prozent aus Gebirgsland besteht. Junge Faltengebirge wie das Taurusgebirge im Süden und das Pontische Gebirge im Norden umschließen die inneranatolischen Steppen, welche 800 bis 1200 Meter hoch gelegen sind. Nach Osten hin wird das Land immer gebirgiger, die Hochländer erreichen 1500 bis 2000 Meter und werden von dem 5156 Meter hohen Vulkanberg Ararat überragt. In Westanatolien und insbesondere in Thrakien, dem europäischen Nordwesten, sind Gebirge seltener und weniger hoch. Weite Tallandschaften und Schwemmebenen bestimmen das Landschaftsbild. Im Süden des mittleren Taurus erstrecken sich Küstenebenen im Bereich von Antalya und Adana. In Südostanatolien geht das Bergland in die fruchtbaren Ackerebenen Nordsyriens und des Iraks über. 
Das Relief und die Lage zum Meer beeinflussen das Klima. Während an der West- und Südküste das subtropische Mittelmeerklima mit seinen milden, regenreichen Wintern und warmen, trockenen Sommern vorherrscht, wird es nach Osten ins Landes-innere hin kontinentaler. Hier werden die Niederschläge geringer, vor allem in den Beckenlandschaften, an deren Randgebirgen sich die Wolken abregnen. Durch das Fehlen des mäßigenden Meereseinflusses sind die Temperaturgegensätze zwischen Sommer und Winter sehr groß. Die Januartemperatur beträgt in Erzurum in Ostanatolien durchschnittlich minus 8,6 und die 
Augusttemperatur plus 19,7 Grad Celsius. Die Schwarzmeerregion hingegen liegt bereits im Bereich der Westwindzone und erhält daher Niederschläge zu allen Jahreszeiten.
Die natürliche Begünstigung der Westtürkei wirkt sich unmittelbar auf die Landwirtschaft aus. In den klimatisch begünstigten und fruchtbaren Schwemmebenen ist ein vielfältiger Anbau möglich (Bananen, Zitrusfrüchte, Obst, Feigen, (Früh-)Gemüse, Sojabohnen, Melonen, Reis und Baumwolle. Die Landwirtschaft Ostanatoliens dagegen ist durch die Subsistenzwirtschaft geprägt. In den Gebirgsräumen überwiegt die Weidewirtschaft. Sie wird oft noch halbnomadisch betrieben: Der sommerlichen Gebirgsweide folgt ein Winterlager in geschützten Becken oder Tälern. Im Westen sind die historischen Stätten und das mediterrane Klima die wesentlichen Voraussetzungen für den aufstrebenden Tourismus.
Neben den natürlichen Gegebenheiten spielen geschichtliche Entwicklungen eine wichtige Rolle für den unterschiedlichen Stand von Infrastruktur, Industrialisierung, Wirtschaftskraft und sozialen Verhältnissen (A 7, A 8). Lagen einst in der orientalisch-islamischen Geschichte die Kulturzentren im Osten oder Südosten der heutigen Türkei, so war das Expansionsziel des Osmanischen Reiches seit dem Spätmittelalter immer der Nordwesten. Fortschrittliche Technik und Wirtschaft gingen immer mehr von Europa aus. Die Städte Bursa, Edirne und Istanbul waren stärker den Einflüssen der modernen westlichen Welt ausgesetzt. Die Nordwesttürkei bildete die Brücke zwischen den Kontinenten Europa und Asien. Die Industrialisierung fand zunächst in den großen Städten des Nordwestens statt. Die günstige Lage zum nahen Europa, zu Exportmärkten und Zulieferern ermöglichten die Einbindung in den Weltmarkt. 
Die wirtschaftliche Entwicklung, der Ausbau von Infrastruktur und die sozialen Verhältnisse bedingen sich wechselseitig. Das Wohlstandsgefälle nach Osten wurde immer größer. Zudem wurde in dieser Region der türkisch-kurdische Konflikt ausgetragen. Die Rückständigkeit der Osttürkei (A 8, A 9) zeigt sich auch in einem geringeren Bildungsniveau besonders der Mädchen, einer höheren Geburtenrate und einer höheren Säuglingssterblichkeit. Es fehlt die medizinische Aufklärung über Geburtenregelung in den noch bestehenden Großfamilien. Auf dem Lande werden Kinder immer noch als Arbeitskräfte und soziale Sicherung für die Eltern im Alter angesehen. Diese Missstände sowie fehlende Arbeitsplätze führen zur Abwanderung. Die Ziele der Migration sind die großen Städte in der Westtürkei und die Küstenregionen, aber auch das Ausland. Die Bevölkerungspyramide (A 10) zeigt die Bevölkerung der Türkei als junges, stark wachsendes Volk. Der Kinderreichtum nimmt jedoch in jüngster Zeit ab, sodass langfristig eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl eintreten wird.

Nach vielen Jahren der Vernachlässigung der östlichen Region ist die Regierung jetzt bemüht, das West-Ost-Gefälle abzumildern und die Landflucht einzudämmen. Eine besondere Rolle fällt dabei dem umstrittenen Südost-Anatolien-Projekt GAP (Güneydogu Anadolu Projesi) zu (A 11). Mit diesem größten Investitionsprogramm der Türkei soll ein sehr ehrgeiziges Projekt zur Energieerzeugung und  Bewässerung im Euphrat-Tigris-Becken verwirklicht werden. Neben einer Intensivierung der Landwirtschaft durch Bewässerung sollen durch verschiedene Infrastrukturmaßnahmen auch die regionale Industrie und der Fremdenverkehr gefördert werden.

Die Türkei als Schwellenland
 

Länder der "Dritten Welt", die aufgrund verschiedener Indikatoren wie Industrialisierungsgrad und Pro-Kopf-Einkommen zur "Ersten Welt" aufsteigen, werden seit den siebziger Jahren Newly Industrializing Countries (NIC) genannt. In Deutschland werden sie als Schwellenländer bezeichnet. Sie haben typische Strukturmerkmale von Entwicklungsländern überwunden, verfügen bereits über verarbeitende Industrien und in der Außenwirtschaft sind sie nicht mehr nur Nahrungsmittel- oder Rohstoffexporteure und Fertigwarenimporteure. Durch ihre relativ hohe Produktivität und niedrigen Löhne machen sie mit ihren Exportprodukten den Industrieländern Konkurrenz. Andererseits hinken vor allem die gesellschaftliche und soziale Entwicklung hinterher.
Ausgehend von den so beschriebenen Strukturmerkmalen können anhand der Materialien A 12 bis A 18 folgende Fragen erörtert werden:

• Was kennzeichnet die Türkei als typisches Schwellenland?
• Welche besonderen Probleme hat das Land in dieser Übergangsphase?
• Wodurch sind diese Probleme bedingt?
• Welche Chancen und Hemmnisse bestehen für die Zukunft?

Bei einem Vergleich des Bruttosozialprodukts pro Kopf (A 12) steht die Türkei hinter den osteuropäischen Reformstaaten wie Polen oder Ungarn. Vergleicht man jedoch die Wirtschaftskraft mit der ihrer Nachbarstaaten, so erscheint die Türkei als ein relativ entwickeltes und wohlhabendes Land. 
Die Außenhandelsstatistik (A 13) zeigt, dass die Türkei neben Energieträgern Investitionsgüter (Maschinen, Ausrüstungen), chemische Produkte und Fertigwaren einführt. Andererseits werden überwiegend Industrieprodukte exportiert (1997: 87 Prozent). Eine besondere Bedeutung haben dabei neben landwirtschaftlichen Erzeugnissen Textilien sowie Eisen und Stahl. Die Handelsbilanz insgesamt ist stark negativ: Importen von über 46 Milliarden Dollar standen 1997 Exporte von nur 26 Milliarden Dollar gegenüber. Zum Teil wird dies jedoch durch eine positive Dienstleistungsbilanz (Tourismus), Übertragungsbilanz (Gastarbeiter-Überweisungen) und den Kapitalverkehr (Direktinvestitionen) ausgeglichen. 
Die Entwicklung der Wirtschaftssektoren (A 14) zeigt die zunehmende Bedeutung des sekundären und vor allem des tertiären Sektors. Der Beitrag der Dienstleistungen zum Bruttosozialprodukt ist von etwa 40 (1960) auf fast 60 Prozent heute gestiegen. Allerdings ist dieser Sektor stark aufgebläht und nicht mit dem entwickelter Industriestaaten zu vergleichen. Er absorbiert vor allem in den Städten die vom Land zuziehenden unqualifizierten Arbeitskräfte, die als Bedienstete, Boten, Lastenträger, Schuhputzer, Klein- und Kleinsthändler nur mühsam ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Die Industrieproduktion verzeichnet sehr hohe Wachstumsraten, wozu nicht zuletzt ausländische Investoren wie Daimler-Benz (A 15) oder die Firma Bosch (1999 zweitgrößter Investor) beitragen. 
Eine besondere Rolle spielt der Tourismus. Seit 1980 hat diese Branche einen gewaltigen Aufschwung genommen und bietet zweieinhalb Millionen Arbeitsplätze. Die deutschen Touristen überwiegen. Der Einbruch der Touristenzahlen 1999 durch die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Festnahme des PKK-Führers Öcalan und die Erdbebenkatastrophe in der Nordwesttürkei zeigen, dass auch dieser Wirtschaftszweig nicht vor Krisen geschützt ist. Die touristische Entwicklung dieses so vielseitigen Landes wird sich jedoch fortsetzen.
Die Landwirtschaft der Türkei verliert nur langsam an Bedeutung. Trotz zunehmender Mechanisierung ist sie wenig produktiv. Bei einem Beitrag von gut 15 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beschäftigt sie immer noch 45 Prozent aller Erwerbstätigen. Aufgrund von Intensivierungsmaßnahmen (Glashauskulturen) und Bewässerungsvorhaben wie dem Ostanatolien-Projekt kann sich die Türkei in hohem Maße selbst mit landwirtschaftlichen Gütern versorgen. Die Zunahme der Nahrungsmittelproduktion liegt über dem Bevölkerungswachstum. Mechanisierung, Motorisierung und Elektrifizierung setzen jedoch in diesem Wirtschaftssektor Arbeitskräfte frei, welche dann in den Städten nach Alternativen suchen.
Die offizielle Arbeitslosenstatistik (A 17) vermittelt kein realistisches Bild. Nach ihr betrug die Arbeitslosenzahl 1997 nur 1,34 Millionen, was einer Quote von 5,9 Prozent entspricht. In den Städten betrug die Arbeitslosenquote 9,2, auf dem Land offiziell nur 3,2 Prozent. Doch gerade hier sind Unterbeschäftigung und verdeckte Arbeitslosigkeit besonders hoch. Die jährliche Zunahme der Bevölkerung um eine Million in den nächsten Jahren wird die Beschäftigungssituation verschärfen, wenn es nicht gelingt, durch hohe Wachstumsraten den Bedarf an Arbeitsplätzen zu decken. Inoffiziell wird die Arbeitslosigkeit auf 35 Prozent geschätzt.
 
Die türkische Wirtschaft zwischen Risiko und Chancen

Die Chancen

  • Die Produktionspalette und der Exportanteil der Industrie nehmen zu
  • Die Wirtschaft des Landes entwickelt sich dynamisch
  • Eingriffe des Staates in die Wirtschaft gehen zurück, erste Reformen wurden in Angriff genommen
  • Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist höher als in den Nachbarstaaten (neue Exportchancen)
  • Die Nahrungsmittelversorgung ist gesichert. Durch mehr Bewässerungsflächen im Rahmen der Staudamm-Projekte sind sogar steigende Agrarexporte möglich
  • Der Tourismus entwickelt sich rasch. Zehn Millionen Auslandsgäste brachten 1997 sieben Milliarden Dollar ins Land 
  • Es herrscht Aufbruchstimmung
  • Die Perspektive einer Aufnahme in die Europäische Union wird zur Modernisierung und Stabilisierung des Landes beitragen

Hemmnisse und Risiken

  • Starke Importabhängigkeit bei Rohstoffen und Investitionsgütern
  • Die hohe Inflationsrate zieht Abwertungen der Lira nach sich, um die Exporte nicht zu gefährden. Importe werden teurer, die Terms of trade verschlechtern sich
  • Die hohe Inflation verstärkt den Gegensatz zwischen Arm und Reich
  • Auslandsverschuldung und innere Staatsverschuldung sind bedenklich hoch
  • Das hohe Bevölkerungswachstum benötigt eine stark wachsende Wirtschaft
  • Fehlende soziale Sicherheit und ungleiche Einkommensverteilung enthalten sozialen Zündstoff
     

Sehr problematisch ist auch die Preisentwicklung (A 18). Die Inflationsrate beträgt 80 bis 100 Prozent pro Jahr und ist überwiegend hausgemacht. Die Hauptursache dafür sind die hohen Defizite des Staatshaushalts. Diese sind wiederum verursacht durch unrentable Staatsbetriebe, deren Privatisierung schon oft angekündigt, aber bislang nicht verwirklicht wurde. Die Betriebe dienen den Regierenden zur Versorgung ihrer Wählerklientel mit Posten und Arbeitsplätzen. Ihre Arbeitsproduktivität ist nur gut halb so hoch wie in der Privatwirtschaft. Die Verluste dieser Betriebe müssen durch den öffentlichen Haushalt gedeckt werden. Auch der Kurden-Konflikt verschlingt viel Geld. Die Bekämpfung der PKK im Südosten erfordert nach Schätzungen jedes Jahr acht Milliarden US-Dollar (Länderbericht S. 267).
Eine weitere Inflationsursache ist die hohe Nachfrage, welche durch das  Angebot nicht gedeckt ist. Bislang fehlte auch der politische Wille, die Inflation wirksam zu bekämpfen. Die hohe Inflationsrate mit daraus folgenden Abwertungen führt dazu, dass Importe immer teurer werden. Der Staat muss hohe Zinsen für seine Anleihen zahlen, was dazu führt, dass inzwischen über die Hälfte der Staatseinnahmen für Zinszahlungen aufgebraucht werden. Außerdem lassen die hochverzinslichen Staatsanleihen private Investitionen unrentabel erscheinen. Zur hohen Auslandsverschuldung (1997 rund 82 Milliarden US-Dollar) kommt so eine gewaltige Binnenverschuldung des Staates. 
Mit der galoppierenden Inflation können die Einkommen nicht Schritt halten, die Folge sind Reallohneinbußen der abhängig Beschäftigten. Die sozialen Gegensätze zwischen Arm und Reich werden dadurch vergrößert.
Die neu gewählte Regierung Ecevit hat im Sommer 1999 auch auf Drängen des IWF einige wirtschaftliche Strukturreformen durchgeführt, die zu Hoffnung Anlass geben. Damit sollen  ausländische Investitionen angelockt und die staatlichen Sozialversicherungen bezahlbar gemacht werden. Weitere Reformen wie die Privatisierung der Staatsbetriebe und die Rückführung der Agrarsubventionen müssen jedoch folgen.

Das politische System der Türkei

Die heutige Türkei kann nicht verstanden werden, ohne den Staatsgründer Kemal Atatürk und die besonderen Umstände der Entstehung der Republik zu kennen. (Ausführliche Darstellungen dazu in "Der Bürger im Staat", 50. Jahrgang, Heft 1/2000 und in den Literaturhinweisen.) Angesichts der öffentlichen Debatte über die Kurdenpolitik der Türkei sowie des angestrebten Beitritts zur Europäischen Union bietet es sich an, das Regierungssystem der Türkei unter der Fragestellung zu behandeln: Wie unterscheidet sich die Türkei von Demokratien westlicher Prägung? 
Ausgegangen werden kann dabei von den Kopenhagener Beschlüssen von 1993, in denen die Beitrittskriterien zur Europäischen Union festgelegt wurden (A 19). Die Aufnahme der Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 11. Dezember 1999 rief auch bei den Türken nicht nur Begeisterung hervor. Angesichts des harten Weges, der von der Türkei in der Entwicklung der Wirtschaft und bei Fragen der Menschenrechte noch gefordert wird, zögerte sogar die türkische Regierung zunächst, das Angebot anzunehmen.

Die Gründung der Republik durch Atatürk

Atatürk ist in der Türkei allgegenwärtig. Sein Denkmal steht auf jedem Marktplatz und jedem Schulhof. Sein Porträt hängt in jedem Amtszimmer, jedem Klassenzimmer und in jedem Laden. Am 29. Oktober, dem Nationalfeiertag, sind alle öffentlichen und viele privaten Gebäude mit Atatürk und der Nationalflagge (A 20) geschmückt. Mustafa Kemal Pascha (1881 bis 1937), seit 1934 auch Atatürk (Vater der Türken) genannt, wird als Gründer der Republik auch heute noch hoch verehrt. Seine Erfolge als Militärführer im Ersten Weltkrieg (Held der Dardanellenschlacht) heben sein Ansehen. Er ist von Anfang an ein politisierender Offizier, als 38-jähriger General rebelliert er gegen die schwache Regierung in Istanbul und wird Führer der türkischen Nationalbewegung (Zeittafel A 21). Der Frieden von Sèvres (10. August 1920) wird von der neu geschaffenen Großen türkischen Nationalversammlung mit Mustafa Kemal als Präsident abgelehnt. Nach Kriegen und Massakern gegen die Armenier und Kämpfen gegen die Griechen wird in der Friedenskonferenz von Lausanne Kleinasien ohne Einschränkung der Souveränität als Territorium der Türkei anerkannt. Am 29. Oktober 1923 proklamiert die Nationalversammlung die Türkische Republik. Kemal Atatürk, der "General als Kulturrevolutionär", prägt ab 1925 mit einer Reihe von Gesetzen (A 22) die Türkei als modernen säkularen Staat. Sein Konzept einer "Reform von oben" gilt als Modell einer erfolgreichen Modernisierung. Aus einer durch die Tradition geprägten Gesellschaft entsteht durch Abkehr von der islamisch-osmanischen Kultur und einer Trennung von Staat und Religion ein moderner Staat. Die Reformen haben einschneidende Wirkung auf das Alltagsleben der Türken.
Atatürk regiert aber auch autoritär, zum Beispiel mit einer Einschränkung der Pressefreiheit. Die Republikanische Volkspartei (CHP) Mustafa Kemals formuliert 1931 ihr politisches Programm neu. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches soll die umfassende Erneuerung von Staat und Gesellschaft durch die sechs Prinzipien des Kemalismus erreicht werden: 

1. Nationalismus (Staatslegitimation durch das türkische Staatsvolk)
2. Laizismus/Säkularismus (Trennung von Staat und Kirche)
3. Republikanismus (republikanische Staatsform)
4. Popularismus (Beteiligung des Volkes mit Rechten und Pflichten)
5. Etatismus (staatliche Wirtschaftsmonopole) 
6. Reformismus (ständige Erneuerung mit dem Ziel der Verwestlichung)

Diese Prinzipien finden Eingang in die Verfassung und gelten bis heute. Heute gelten sie aber teilweise auch als schwere Hypothek, da das Festhalten an ihnen notwendigen Reformen im Wege steht. So behindert beispielsweise der Nationalismus einen vernünftigen Ausgleich mit der kurdischen Minderheit. Der Populismus leugnet das Bestehen sozialer Klassen. Das etatistische Denken hat lange Zeit Privatisierungen und Strukturreformen in der Wirtschaft verhindert. Der Staat ist der Gesellschaft übergeordnet und versucht, die Entwicklung der Gesellschaft so weit wie möglich zu bestimmen. Der Bürger seinerseits erwartet alles vom omnipotenten Staat. Erst das Versagen staatlicher Stellen, vor allem des Militärs bei der Erdbebenkatastrophe im Sommer 1999, führt zu einer Ernüchterung und erschüttert auch das Staatsverständnis der Türken.

Die Religion

Neunundneunzig Prozent aller Türken sind Muslime. Orthodoxe, Juden und Katholiken bilden nur sehr kleine Minderheiten. Von den Muslimen sind rund 75 Prozent Sunniten. Die Minderheit der Aleviten unterscheidet sich durch ein höheres Maß an Offenheit und Pragmatismus von den anderen Muslimen. Durch das kemalistische Prinzip des Laizismus wurde der Einfluss der Religion stark zurückgedrängt und seine strikte Unterordnung unter den Staat vollzogen. Die Religion sollte im Alltag eine untergeordnete Rolle spielen, um so Streit zwischen den muslimischen Konfessionen und mit Nichtmuslimen zu vermeiden und die türkische Nation zu stärken. Die Verfassung garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit, andererseits sind Religionskultur und Ethikwissen ein Schulpflichtfach. Religionsbehörden verwalten sozusagen den türkischen Islam. Auch die Koranschulen unterliegen der Staatsaufsicht.
Im Gegensatz zum Säkularismus westeuropäischer Staaten, wo sich eine Trennung zwischen Staat und Kirche in einem langen Prozeß vollzog und die Kirche ihre Unabhängigkeit im geistlichen Bereich behielt, mischt sich der türkische Staat direkt in Religionsangelegenheiten ein. Besonders umstritten ist das Amt für religiöse Angelegenheiten, welches die staatliche Religionspolitik im Sinne eines gemäßigten ("offiziellen") Islam betreibt. Auch der Kopftuchstreit des Jahres 1999 zeigt den Konflikt zwischen freier Religionsausübung und der staatlichen Verpflichtung zum Laizismus.

Verfassung und Staatsaufbau

Die heute gültige Verfassung stammt vom 7. November 1982 und wurde auf Anweisung der Militärs ausgearbeitet. In ihr (A 23) sind die Geltung von Grund- und Menschenrechten sowie die Prinzipien der Demokratie, Volkssouveränität, das Sozial- und Rechtsstaatsprinzip sowie die Gewaltenteilung verankert. Der Gegensatz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit ist in der Türkei jedoch evident. So ist das Verfassungsgericht in Verfassungsfragen zwar die oberste Instanz und überprüft Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Andererseits kommt es vor, dass die türkische Nationalversammlung Gesetze, die durch das Verfassungsgericht aufgehoben worden sind, einfach noch einmal verabschiedet. Auch fällt es der Polizei immer noch schwer, auf unmenschliche Ermittlungsmethoden zu verzichten. (Vgl. Christian Rumpf: Das türkische Verfassungssystem, S. 29 f.)
Der Präsident hat eine starke Stellung und wird vom Parlament auf sieben Jahre gewählt (A 26). Er ernennt den Ministerpräsidenten, der allerdings das Vertrauen des Parlaments besitzen muss. Er hat den Vorsitz im Nationalen Sicherheitsrat, ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und kann mit der Regierung (Ministerrat) den Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht verhängen. 
Der Ministerrat besteht aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern und bildet die eigentliche Exekutive. Die Verwaltung ist stark zentralistisch. Den 79 Provinzen stehen Gouverneure vor, die vom Ministerrat ernannt und vom Präsidenten bestätigt werden. Sie verwalten die Provinzen und sind zugleich oberste Ordnungs- und Polizeibehörde.
Das Parlament, die Große Nationalversammlung der Türkei hat 550 Abgeordnete. Sie bilden die Legislative und sind Repräsentanten des türkischen Volkes. Alle fünf Jahre wird das Parlament in freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Das Wahlsystem (derzeit ein Verhältniswahlrecht mit einer Zehn-Prozent-Sperrklausel auf Landesebene) ist im Interesse der Machterhaltung der jeweils Regierenden häufigen Veränderungen unterworfen. Wahlergebnisse finden sich in "Der Bürger im Staat" 1/2000, S. 27 ff.
Die gegenwärtig wichtigsten Parteien sind der Übersicht A 25 zu entnehmen. Zahlreiche Parteiverbote wegen Abkehr vom Kemalismus auf Betreiben des Militärs haben immer wieder Neugründungen, meist mit den alten Personen, zur Folge. Gemeinsam ist allen türkischen Parteien, dass ihre Programme oft austauschbar sind, prägend sind jeweils die Parteivorsitzenden als politische Persönlichkeiten. An ihnen orientiert sich auch der Wähler.

Die Rolle des Militärs

Kemal Atatürk (wie sein Nachfolger Ismet Inönü osmanischer General im Ersten Weltkrieg und Held des Befreiungskrieges) hat der Armee eine besondere Rolle bei der Verbreitung und Durchsetzung seiner revolutionären Ideen zugedacht. Das Militär genießt daher bis heute hohes Ansehen in der Türkei, auch wenn es in vielen Bereichen nicht mehr als Erneuerer und Modernisierer, sondern als Bewahrer und Bremser wahrgenommen wird. Nach den Militärputschen 1960, 1971  und 1980 ist das politische Mitspracherecht des Militärs in der Verfassung von 1982 durch den Nationalen Sicherheitsrat gewährleistet. In Fragen der nationalen Sicherheit, der Einheit und Unteilbarkeit des Landes sowie der inneren Sicherheit muss der Ministerrat die Empfehlungen des Nationalen Sicherheitsrates umsetzen. Die letzte Intervention des Militärs führte 1997 zum Rücktritt des islamistischen Ministerpräsidenten Erbakan und zum Verbot der Wohlfahrtspartei RP (Refah Partisi).
Innerhalb der Nato unterhält die Türkei nach den USA die zweitgrößte Armee. Die umstrittene Kurdenpolitik wird durch die Generäle bestimmt. Der gegenwärtige Ministerpräsident Ecevit versucht zwar den Einfluss des Militärs einzudämmen, ein Erfolg dabei ist jedoch ungewiss.


Literaturhinweise
Holger Höhfeld: Türkei. Schwellenland der Gegensätze. 
Perthes Länderprofile, Gotha 1995
Faruk S¸en, ÇigŠdem Akkaya, Yasemin Özbek: Länderbericht Türkei, Primus Verlag, Darmstadt 1998
 


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