Baustein A stellt das Land vor, aus dem die Türken zu uns kamen. Die
meisten türkischen Arbeitskräfte stammten ursprünglich aus
den unterentwickelten Regionen des Ostens und Südostens der Türkei.
Viele hatten bereits eine Binnenwanderung in die großen Städte
vor allem der Westtürkei (Istanbul, Izmir) hinter sich. Ein starkes
Bevölkerungswachstum und fehlende wirtschaftliche Dynamik verschärften
die Arbeitslosigkeit in der Türkei. Die Auswanderung bot ein Ventil,
um soziale Spannungen abzubauen. Die Überweisungen der "Gastarbeiter"
waren als Ausgleich für das türkische Handelsbilanzdefizit willkommen.
Zudem hoffte man zunächst, dass im Ausland eine qualifizierte
türkische Facharbeiterschaft herangebildet würde, die bei ihrer
Rückkehr einer Industrialisierung der Türkei zugute käme.
Seit der Ankunft der ersten "Gastarbeiter" aus Anatolien hat sich die
Türkei sehr stark gewandelt. Manche Probleme, die damals durch die Migration
gelöst werden sollten, sind geblieben, andererseits eröffnete der
Wandel auch gute mittel- und langfristige Entwicklungschancen.
Schwerpunkt des Bausteins sind die wirtschaftlichen Probleme und Perspektiven
der Türkei als Schwellenland. Der Begriff des Schwellenlandes steht
für ein Entwicklungsland, das in seiner Entwicklung schon relativ weit
fortgeschritten ist: Industrialisierungsgrad und Lebenserwartung steigen,
die Analphabetenrate nimmt ab, doch die soziale Entwicklung des Landes kann
mit der wirtschaftlichen nicht mithalten. Ein wichtiges Merkmal von Entwicklungs-
und Schwellenländern ist die ungleiche Entwicklung zwischen den einzelnen
Regionen dieser Staaten. Eine solche Disparität in Form eines
West-Ost-Gegensatzes ist innerhalb der Türkei besonders stark
ausgeprägt und zählt zu den Ursachen von Migration sowohl innerhalb
des Landes als auch ins Ausland.
Die Türkei hat zwei Gesichter
Der deutsche Pauschaltourist wird bei einer Türkeireise üblicherweise
nur die moderne Welt des Fremdenverkehrs in der Westtürkei kennen lernen.
Er lebt dort im Vier- oder Fünf-Sterne-Hotel, genießt den Aufenthalt
bei angenehmem Klima am Pool und an sauberen Stränden (A 1). Bei
Ausflugsfahrten sieht er im Wesentlichen moderne Großstädte (A
5), gepflegte antike Sehenswürdigkeiten (A 2), auf dem Lande vermitteln
bewässerte Zitrushaine, Gemüse- oder Baumwollfelder den Eindruck
von Fruchtbarkeit und moderner Landwirtschaft.
Doch die Türkei hat zwei Gesichter. Der gut entwickelten und von der
Natur begünstigten Westtürkei steht der periphere
rückständige Osten gegenüber: vom Tourismus weitgehend
unberührt, mit wenig Industrie, dafür mit einer arbeitsintensiven,
rückständigen Landwirtschaft (A 3, A 4). Mögliche Leitfragen
für die Bearbeitung der Materialien sind:
- Woran lässt sich das West-Ost-Gefälle festmachen? Worin
liegen die Ursachen?
- Inwieweit ist das Gefälle durch physisch-geographische Faktoren,
die Lage, die Geschichte, die Wirtschaftspolitik oder anderes bedingt?
- Welche Auswirkungen und Folgen haben diese regionalen Gegensätze?
- Welche Maßnahmen werden ergriffen, um dieser Entwicklung
gegenzusteuern?
Die physisch-geographische Karte A 6 oder eine entsprechende Atlaskarte zeigt,
dass die Türkei zu 90 Prozent aus Gebirgsland besteht. Junge Faltengebirge
wie das Taurusgebirge im Süden und das Pontische Gebirge im Norden
umschließen die inneranatolischen Steppen, welche 800 bis 1200 Meter
hoch gelegen sind. Nach Osten hin wird das Land immer gebirgiger, die
Hochländer erreichen 1500 bis 2000 Meter und werden von dem 5156 Meter
hohen Vulkanberg Ararat überragt. In Westanatolien und insbesondere
in Thrakien, dem europäischen Nordwesten, sind Gebirge seltener und
weniger hoch. Weite Tallandschaften und Schwemmebenen bestimmen das
Landschaftsbild. Im Süden des mittleren Taurus erstrecken sich
Küstenebenen im Bereich von Antalya und Adana. In Südostanatolien
geht das Bergland in die fruchtbaren Ackerebenen Nordsyriens und des Iraks
über.
Das Relief und die Lage zum Meer beeinflussen das Klima. Während an
der West- und Südküste das subtropische Mittelmeerklima mit seinen
milden, regenreichen Wintern und warmen, trockenen Sommern vorherrscht, wird
es nach Osten ins Landes-innere hin kontinentaler. Hier werden die
Niederschläge geringer, vor allem in den Beckenlandschaften, an deren
Randgebirgen sich die Wolken abregnen. Durch das Fehlen des
mäßigenden Meereseinflusses sind die Temperaturgegensätze
zwischen Sommer und Winter sehr groß. Die Januartemperatur beträgt
in Erzurum in Ostanatolien durchschnittlich minus 8,6 und die
Augusttemperatur plus 19,7 Grad Celsius. Die Schwarzmeerregion hingegen liegt
bereits im Bereich der Westwindzone und erhält daher Niederschläge
zu allen Jahreszeiten.
Die natürliche Begünstigung der Westtürkei wirkt sich unmittelbar
auf die Landwirtschaft aus. In den klimatisch begünstigten und fruchtbaren
Schwemmebenen ist ein vielfältiger Anbau möglich (Bananen,
Zitrusfrüchte, Obst, Feigen, (Früh-)Gemüse, Sojabohnen, Melonen,
Reis und Baumwolle. Die Landwirtschaft Ostanatoliens dagegen ist durch die
Subsistenzwirtschaft geprägt. In den Gebirgsräumen überwiegt
die Weidewirtschaft. Sie wird oft noch halbnomadisch betrieben: Der sommerlichen
Gebirgsweide folgt ein Winterlager in geschützten Becken oder Tälern.
Im Westen sind die historischen Stätten und das mediterrane Klima die
wesentlichen Voraussetzungen für den aufstrebenden Tourismus.
Neben den natürlichen Gegebenheiten spielen geschichtliche Entwicklungen
eine wichtige Rolle für den unterschiedlichen Stand von Infrastruktur,
Industrialisierung, Wirtschaftskraft und sozialen Verhältnissen (A
7, A 8). Lagen einst in der orientalisch-islamischen Geschichte die Kulturzentren
im Osten oder Südosten der heutigen Türkei, so war das Expansionsziel
des Osmanischen Reiches seit dem Spätmittelalter immer der Nordwesten.
Fortschrittliche Technik und Wirtschaft gingen immer mehr von Europa aus.
Die Städte Bursa, Edirne und Istanbul waren stärker den
Einflüssen der modernen westlichen Welt ausgesetzt. Die Nordwesttürkei
bildete die Brücke zwischen den Kontinenten Europa und Asien. Die
Industrialisierung fand zunächst in den großen Städten des
Nordwestens statt. Die günstige Lage zum nahen Europa, zu
Exportmärkten und Zulieferern ermöglichten die Einbindung in den
Weltmarkt.
Die wirtschaftliche Entwicklung, der Ausbau von Infrastruktur und die sozialen
Verhältnisse bedingen sich wechselseitig. Das Wohlstandsgefälle
nach Osten wurde immer größer. Zudem wurde in dieser Region der
türkisch-kurdische Konflikt ausgetragen. Die Rückständigkeit
der Osttürkei (A 8, A 9) zeigt sich auch in einem geringeren Bildungsniveau
besonders der Mädchen, einer höheren Geburtenrate und einer
höheren Säuglingssterblichkeit. Es fehlt die medizinische
Aufklärung über Geburtenregelung in den noch bestehenden
Großfamilien. Auf dem Lande werden Kinder immer noch als
Arbeitskräfte und soziale Sicherung für die Eltern im Alter angesehen.
Diese Missstände sowie fehlende Arbeitsplätze führen zur
Abwanderung. Die Ziele der Migration sind die großen Städte in
der Westtürkei und die Küstenregionen, aber auch das Ausland. Die
Bevölkerungspyramide (A 10) zeigt die Bevölkerung der Türkei
als junges, stark wachsendes Volk. Der Kinderreichtum nimmt jedoch in
jüngster Zeit ab, sodass langfristig eine Stabilisierung der
Bevölkerungszahl eintreten wird.
Nach vielen Jahren der Vernachlässigung der östlichen Region ist
die Regierung jetzt bemüht, das West-Ost-Gefälle abzumildern und
die Landflucht einzudämmen. Eine besondere Rolle fällt dabei dem
umstrittenen Südost-Anatolien-Projekt GAP (Güneydogu Anadolu Projesi)
zu (A 11). Mit diesem größten Investitionsprogramm der Türkei
soll ein sehr ehrgeiziges Projekt zur Energieerzeugung und
Bewässerung im Euphrat-Tigris-Becken verwirklicht werden. Neben einer
Intensivierung der Landwirtschaft durch Bewässerung sollen durch
verschiedene Infrastrukturmaßnahmen auch die regionale Industrie und
der Fremdenverkehr gefördert werden.
Die Türkei als Schwellenland
Länder der "Dritten Welt", die aufgrund verschiedener Indikatoren wie
Industrialisierungsgrad und Pro-Kopf-Einkommen zur "Ersten Welt" aufsteigen,
werden seit den siebziger Jahren Newly Industrializing Countries (NIC) genannt.
In Deutschland werden sie als Schwellenländer bezeichnet. Sie haben
typische Strukturmerkmale von Entwicklungsländern überwunden,
verfügen bereits über verarbeitende Industrien und in der
Außenwirtschaft sind sie nicht mehr nur Nahrungsmittel- oder
Rohstoffexporteure und Fertigwarenimporteure. Durch ihre relativ hohe
Produktivität und niedrigen Löhne machen sie mit ihren Exportprodukten
den Industrieländern Konkurrenz. Andererseits hinken vor allem die
gesellschaftliche und soziale Entwicklung hinterher.
Ausgehend von den so beschriebenen Strukturmerkmalen können anhand
der Materialien A 12 bis A 18 folgende Fragen erörtert
werden:
Was kennzeichnet die Türkei als typisches Schwellenland?
Welche besonderen Probleme hat das Land in dieser Übergangsphase?
Wodurch sind diese Probleme bedingt?
Welche Chancen und Hemmnisse bestehen für die Zukunft?
Bei einem Vergleich des Bruttosozialprodukts pro Kopf (A 12) steht
die Türkei hinter den osteuropäischen Reformstaaten wie Polen oder
Ungarn. Vergleicht man jedoch die Wirtschaftskraft mit der ihrer Nachbarstaaten,
so erscheint die Türkei als ein relativ entwickeltes und wohlhabendes
Land.
Die Außenhandelsstatistik (A 13) zeigt, dass die Türkei
neben Energieträgern Investitionsgüter (Maschinen, Ausrüstungen),
chemische Produkte und Fertigwaren einführt. Andererseits werden
überwiegend Industrieprodukte exportiert (1997: 87 Prozent). Eine besondere
Bedeutung haben dabei neben landwirtschaftlichen Erzeugnissen Textilien sowie
Eisen und Stahl. Die Handelsbilanz insgesamt ist stark negativ: Importen
von über 46 Milliarden Dollar standen 1997 Exporte von nur 26 Milliarden
Dollar gegenüber. Zum Teil wird dies jedoch durch eine positive
Dienstleistungsbilanz (Tourismus), Übertragungsbilanz
(Gastarbeiter-Überweisungen) und den Kapitalverkehr (Direktinvestitionen)
ausgeglichen.
Die Entwicklung der Wirtschaftssektoren (A 14) zeigt die zunehmende
Bedeutung des sekundären und vor allem des tertiären Sektors. Der
Beitrag der Dienstleistungen zum Bruttosozialprodukt ist von etwa 40 (1960)
auf fast 60 Prozent heute gestiegen. Allerdings ist dieser Sektor stark
aufgebläht und nicht mit dem entwickelter Industriestaaten zu vergleichen.
Er absorbiert vor allem in den Städten die vom Land zuziehenden
unqualifizierten Arbeitskräfte, die als Bedienstete, Boten,
Lastenträger, Schuhputzer, Klein- und Kleinsthändler nur mühsam
ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Die Industrieproduktion verzeichnet sehr hohe Wachstumsraten, wozu nicht
zuletzt ausländische Investoren wie Daimler-Benz (A 15) oder
die Firma Bosch (1999 zweitgrößter Investor) beitragen.
Eine besondere Rolle spielt der Tourismus. Seit 1980 hat diese Branche einen
gewaltigen Aufschwung genommen und bietet zweieinhalb Millionen
Arbeitsplätze. Die deutschen Touristen überwiegen. Der Einbruch
der Touristenzahlen 1999 durch die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit
der Festnahme des PKK-Führers Öcalan und die Erdbebenkatastrophe
in der Nordwesttürkei zeigen, dass auch dieser Wirtschaftszweig nicht
vor Krisen geschützt ist. Die touristische Entwicklung dieses so
vielseitigen Landes wird sich jedoch fortsetzen.
Die Landwirtschaft der Türkei verliert nur langsam an Bedeutung. Trotz
zunehmender Mechanisierung ist sie wenig produktiv. Bei einem Beitrag von
gut 15 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beschäftigt sie immer noch 45
Prozent aller Erwerbstätigen. Aufgrund von Intensivierungsmaßnahmen
(Glashauskulturen) und Bewässerungsvorhaben wie dem Ostanatolien-Projekt
kann sich die Türkei in hohem Maße selbst mit landwirtschaftlichen
Gütern versorgen. Die Zunahme der Nahrungsmittelproduktion liegt über
dem Bevölkerungswachstum. Mechanisierung, Motorisierung und Elektrifizierung
setzen jedoch in diesem Wirtschaftssektor Arbeitskräfte frei, welche
dann in den Städten nach Alternativen suchen.
Die offizielle Arbeitslosenstatistik (A 17) vermittelt kein realistisches
Bild. Nach ihr betrug die Arbeitslosenzahl 1997 nur 1,34 Millionen, was einer
Quote von 5,9 Prozent entspricht. In den Städten betrug die
Arbeitslosenquote 9,2, auf dem Land offiziell nur 3,2 Prozent. Doch gerade
hier sind Unterbeschäftigung und verdeckte Arbeitslosigkeit besonders
hoch. Die jährliche Zunahme der Bevölkerung um eine Million in
den nächsten Jahren wird die Beschäftigungssituation verschärfen,
wenn es nicht gelingt, durch hohe Wachstumsraten den Bedarf an
Arbeitsplätzen zu decken. Inoffiziell wird die Arbeitslosigkeit auf
35 Prozent geschätzt.
Die türkische Wirtschaft zwischen Risiko und Chancen
Die Chancen
- Die Produktionspalette und der Exportanteil der Industrie nehmen zu
- Die Wirtschaft des Landes entwickelt sich dynamisch
- Eingriffe des Staates in die Wirtschaft gehen zurück, erste Reformen
wurden in Angriff genommen
- Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist höher als in
den Nachbarstaaten (neue Exportchancen)
- Die Nahrungsmittelversorgung ist gesichert. Durch mehr
Bewässerungsflächen im Rahmen der Staudamm-Projekte sind sogar
steigende Agrarexporte möglich
- Der Tourismus entwickelt sich rasch. Zehn Millionen Auslandsgäste
brachten 1997 sieben Milliarden Dollar ins Land
- Es herrscht Aufbruchstimmung
- Die Perspektive einer Aufnahme in die Europäische Union wird
zur Modernisierung und Stabilisierung des Landes beitragen
Hemmnisse und Risiken
- Starke Importabhängigkeit bei Rohstoffen und Investitionsgütern
- Die hohe Inflationsrate zieht Abwertungen der Lira nach sich, um die
Exporte nicht zu gefährden. Importe werden teurer, die Terms of trade
verschlechtern sich
- Die hohe Inflation verstärkt den Gegensatz zwischen Arm und Reich
- Auslandsverschuldung und innere Staatsverschuldung sind bedenklich
hoch
- Das hohe Bevölkerungswachstum benötigt eine stark wachsende
Wirtschaft
- Fehlende soziale Sicherheit und ungleiche Einkommensverteilung enthalten
sozialen Zündstoff
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Sehr problematisch ist auch die Preisentwicklung (A 18). Die
Inflationsrate beträgt 80 bis 100 Prozent pro Jahr und ist überwiegend
hausgemacht. Die Hauptursache dafür sind die hohen Defizite des
Staatshaushalts. Diese sind wiederum verursacht durch unrentable Staatsbetriebe,
deren Privatisierung schon oft angekündigt, aber bislang nicht verwirklicht
wurde. Die Betriebe dienen den Regierenden zur Versorgung ihrer
Wählerklientel mit Posten und Arbeitsplätzen. Ihre
Arbeitsproduktivität ist nur gut halb so hoch wie in der Privatwirtschaft.
Die Verluste dieser Betriebe müssen durch den öffentlichen Haushalt
gedeckt werden. Auch der Kurden-Konflikt verschlingt viel Geld. Die
Bekämpfung der PKK im Südosten erfordert nach Schätzungen
jedes Jahr acht Milliarden US-Dollar (Länderbericht S. 267).
Eine weitere Inflationsursache ist die hohe Nachfrage, welche durch das
Angebot nicht gedeckt ist. Bislang fehlte auch der politische Wille, die
Inflation wirksam zu bekämpfen. Die hohe Inflationsrate mit daraus folgenden
Abwertungen führt dazu, dass Importe immer teurer werden. Der Staat
muss hohe Zinsen für seine Anleihen zahlen, was dazu führt, dass
inzwischen über die Hälfte der Staatseinnahmen für Zinszahlungen
aufgebraucht werden. Außerdem lassen die hochverzinslichen Staatsanleihen
private Investitionen unrentabel erscheinen. Zur hohen Auslandsverschuldung
(1997 rund 82 Milliarden US-Dollar) kommt so eine gewaltige Binnenverschuldung
des Staates.
Mit der galoppierenden Inflation können die Einkommen nicht Schritt
halten, die Folge sind Reallohneinbußen der abhängig
Beschäftigten. Die sozialen Gegensätze zwischen Arm und Reich werden
dadurch vergrößert.
Die neu gewählte Regierung Ecevit hat im Sommer 1999 auch auf Drängen
des IWF einige wirtschaftliche Strukturreformen durchgeführt, die zu
Hoffnung Anlass geben. Damit sollen ausländische Investitionen
angelockt und die staatlichen Sozialversicherungen bezahlbar gemacht werden.
Weitere Reformen wie die Privatisierung der Staatsbetriebe und die
Rückführung der Agrarsubventionen müssen jedoch folgen.
Das politische System der Türkei
Die heutige Türkei kann nicht verstanden werden, ohne den
Staatsgründer Kemal Atatürk und die besonderen Umstände der
Entstehung der Republik zu kennen. (Ausführliche Darstellungen dazu
in "Der Bürger im Staat", 50. Jahrgang, Heft 1/2000 und in den
Literaturhinweisen.) Angesichts der öffentlichen Debatte über die
Kurdenpolitik der Türkei sowie des angestrebten Beitritts zur
Europäischen Union bietet es sich an, das Regierungssystem der Türkei
unter der Fragestellung zu behandeln: Wie unterscheidet sich die Türkei
von Demokratien westlicher Prägung?
Ausgegangen werden kann dabei von den Kopenhagener Beschlüssen von 1993,
in denen die Beitrittskriterien zur Europäischen Union festgelegt wurden
(A 19). Die Aufnahme der Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten
auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 11. Dezember 1999 rief auch bei den Türken
nicht nur Begeisterung hervor. Angesichts des harten Weges, der von der
Türkei in der Entwicklung der Wirtschaft und bei Fragen der Menschenrechte
noch gefordert wird, zögerte sogar die türkische Regierung
zunächst, das Angebot anzunehmen.
Die Gründung der Republik durch Atatürk
Atatürk ist in der Türkei allgegenwärtig. Sein Denkmal steht
auf jedem Marktplatz und jedem Schulhof. Sein Porträt hängt in
jedem Amtszimmer, jedem Klassenzimmer und in jedem Laden. Am 29. Oktober,
dem Nationalfeiertag, sind alle öffentlichen und viele privaten
Gebäude mit Atatürk und der Nationalflagge (A 20) geschmückt.
Mustafa Kemal Pascha (1881 bis 1937), seit 1934 auch Atatürk (Vater
der Türken) genannt, wird als Gründer der Republik auch heute noch
hoch verehrt. Seine Erfolge als Militärführer im Ersten Weltkrieg
(Held der Dardanellenschlacht) heben sein Ansehen. Er ist von Anfang an ein
politisierender Offizier, als 38-jähriger General rebelliert er gegen
die schwache Regierung in Istanbul und wird Führer der türkischen
Nationalbewegung (Zeittafel A 21). Der Frieden von Sèvres (10. August
1920) wird von der neu geschaffenen Großen türkischen
Nationalversammlung mit Mustafa Kemal als Präsident abgelehnt. Nach
Kriegen und Massakern gegen die Armenier und Kämpfen gegen die Griechen
wird in der Friedenskonferenz von Lausanne Kleinasien ohne Einschränkung
der Souveränität als Territorium der Türkei anerkannt. Am
29. Oktober 1923 proklamiert die Nationalversammlung die Türkische Republik.
Kemal Atatürk, der "General als Kulturrevolutionär", prägt
ab 1925 mit einer Reihe von Gesetzen (A 22) die Türkei als modernen
säkularen Staat. Sein Konzept einer "Reform von oben" gilt als Modell
einer erfolgreichen Modernisierung. Aus einer durch die Tradition geprägten
Gesellschaft entsteht durch Abkehr von der islamisch-osmanischen Kultur und
einer Trennung von Staat und Religion ein moderner Staat. Die Reformen haben
einschneidende Wirkung auf das Alltagsleben der Türken.
Atatürk regiert aber auch autoritär, zum Beispiel mit einer
Einschränkung der Pressefreiheit. Die Republikanische Volkspartei (CHP)
Mustafa Kemals formuliert 1931 ihr politisches Programm neu. Nach dem
Zusammenbruch des Osmanischen Reiches soll die umfassende Erneuerung von
Staat und Gesellschaft durch die sechs Prinzipien des Kemalismus erreicht
werden:
1. Nationalismus (Staatslegitimation durch das türkische Staatsvolk)
2. Laizismus/Säkularismus (Trennung von Staat und Kirche)
3. Republikanismus (republikanische Staatsform)
4. Popularismus (Beteiligung des Volkes mit Rechten und Pflichten)
5. Etatismus (staatliche Wirtschaftsmonopole)
6. Reformismus (ständige Erneuerung mit dem Ziel der Verwestlichung)
Diese Prinzipien finden Eingang in die Verfassung und gelten bis heute. Heute
gelten sie aber teilweise auch als schwere Hypothek, da das Festhalten an
ihnen notwendigen Reformen im Wege steht. So behindert beispielsweise der
Nationalismus einen vernünftigen Ausgleich mit der kurdischen Minderheit.
Der Populismus leugnet das Bestehen sozialer Klassen. Das etatistische Denken
hat lange Zeit Privatisierungen und Strukturreformen in der Wirtschaft
verhindert. Der Staat ist der Gesellschaft übergeordnet und versucht,
die Entwicklung der Gesellschaft so weit wie möglich zu bestimmen. Der
Bürger seinerseits erwartet alles vom omnipotenten Staat. Erst das Versagen
staatlicher Stellen, vor allem des Militärs bei der Erdbebenkatastrophe
im Sommer 1999, führt zu einer Ernüchterung und erschüttert
auch das Staatsverständnis der Türken.
Die Religion
Neunundneunzig Prozent aller Türken sind Muslime. Orthodoxe, Juden und
Katholiken bilden nur sehr kleine Minderheiten. Von den Muslimen sind rund
75 Prozent Sunniten. Die Minderheit der Aleviten unterscheidet sich durch
ein höheres Maß an Offenheit und Pragmatismus von den anderen
Muslimen. Durch das kemalistische Prinzip des Laizismus wurde der Einfluss
der Religion stark zurückgedrängt und seine strikte Unterordnung
unter den Staat vollzogen. Die Religion sollte im Alltag eine untergeordnete
Rolle spielen, um so Streit zwischen den muslimischen Konfessionen und mit
Nichtmuslimen zu vermeiden und die türkische Nation zu stärken.
Die Verfassung garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit, andererseits sind
Religionskultur und Ethikwissen ein Schulpflichtfach. Religionsbehörden
verwalten sozusagen den türkischen Islam. Auch die Koranschulen unterliegen
der Staatsaufsicht.
Im Gegensatz zum Säkularismus westeuropäischer Staaten, wo sich
eine Trennung zwischen Staat und Kirche in einem langen Prozeß vollzog
und die Kirche ihre Unabhängigkeit im geistlichen Bereich behielt, mischt
sich der türkische Staat direkt in Religionsangelegenheiten ein. Besonders
umstritten ist das Amt für religiöse Angelegenheiten, welches die
staatliche Religionspolitik im Sinne eines gemäßigten ("offiziellen")
Islam betreibt. Auch der Kopftuchstreit des Jahres 1999 zeigt den Konflikt
zwischen freier Religionsausübung und der staatlichen Verpflichtung
zum Laizismus.
Verfassung und Staatsaufbau
Die heute gültige Verfassung stammt vom 7. November 1982 und wurde auf
Anweisung der Militärs ausgearbeitet. In ihr (A 23) sind die Geltung
von Grund- und Menschenrechten sowie die Prinzipien der Demokratie,
Volkssouveränität, das Sozial- und Rechtsstaatsprinzip sowie die
Gewaltenteilung verankert. Der Gegensatz zwischen Verfassungsnorm und
Verfassungswirklichkeit ist in der Türkei jedoch evident. So ist das
Verfassungsgericht in Verfassungsfragen zwar die oberste Instanz und
überprüft Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit.
Andererseits kommt es vor, dass die türkische Nationalversammlung Gesetze,
die durch das Verfassungsgericht aufgehoben worden sind, einfach noch einmal
verabschiedet. Auch fällt es der Polizei immer noch schwer, auf
unmenschliche Ermittlungsmethoden zu verzichten. (Vgl. Christian Rumpf: Das
türkische Verfassungssystem, S. 29 f.)
Der Präsident hat eine starke Stellung und wird vom Parlament auf sieben
Jahre gewählt (A 26). Er ernennt den Ministerpräsidenten, der
allerdings das Vertrauen des Parlaments besitzen muss. Er hat den Vorsitz
im Nationalen Sicherheitsrat, ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte
und kann mit der Regierung (Ministerrat) den Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht
verhängen.
Der Ministerrat besteht aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern
und bildet die eigentliche Exekutive. Die Verwaltung ist stark zentralistisch.
Den 79 Provinzen stehen Gouverneure vor, die vom Ministerrat ernannt und
vom Präsidenten bestätigt werden. Sie verwalten die Provinzen und
sind zugleich oberste Ordnungs- und Polizeibehörde.
Das Parlament, die Große Nationalversammlung der Türkei hat 550
Abgeordnete. Sie bilden die Legislative und sind Repräsentanten des
türkischen Volkes. Alle fünf Jahre wird das Parlament in freier,
gleicher und geheimer Wahl gewählt. Das Wahlsystem (derzeit ein
Verhältniswahlrecht mit einer Zehn-Prozent-Sperrklausel auf Landesebene)
ist im Interesse der Machterhaltung der jeweils Regierenden häufigen
Veränderungen unterworfen. Wahlergebnisse finden sich in "Der Bürger
im Staat" 1/2000, S. 27 ff.
Die gegenwärtig wichtigsten Parteien sind der Übersicht A 25 zu
entnehmen. Zahlreiche Parteiverbote wegen Abkehr vom Kemalismus auf Betreiben
des Militärs haben immer wieder Neugründungen, meist mit den alten
Personen, zur Folge. Gemeinsam ist allen türkischen Parteien, dass ihre
Programme oft austauschbar sind, prägend sind jeweils die Parteivorsitzenden
als politische Persönlichkeiten. An ihnen orientiert sich auch der
Wähler.
Die Rolle des Militärs
Kemal Atatürk (wie sein Nachfolger Ismet Inönü osmanischer
General im Ersten Weltkrieg und Held des Befreiungskrieges) hat der Armee
eine besondere Rolle bei der Verbreitung und Durchsetzung seiner
revolutionären Ideen zugedacht. Das Militär genießt daher
bis heute hohes Ansehen in der Türkei, auch wenn es in vielen Bereichen
nicht mehr als Erneuerer und Modernisierer, sondern als Bewahrer und Bremser
wahrgenommen wird. Nach den Militärputschen 1960, 1971 und 1980
ist das politische Mitspracherecht des Militärs in der Verfassung von
1982 durch den Nationalen Sicherheitsrat gewährleistet. In Fragen der
nationalen Sicherheit, der Einheit und Unteilbarkeit des Landes sowie der
inneren Sicherheit muss der Ministerrat die Empfehlungen des Nationalen
Sicherheitsrates umsetzen. Die letzte Intervention des Militärs führte
1997 zum Rücktritt des islamistischen Ministerpräsidenten Erbakan
und zum Verbot der Wohlfahrtspartei RP (Refah Partisi).
Innerhalb der Nato unterhält die Türkei nach den USA die
zweitgrößte Armee. Die umstrittene Kurdenpolitik wird durch die
Generäle bestimmt. Der gegenwärtige Ministerpräsident Ecevit
versucht zwar den Einfluss des Militärs einzudämmen, ein Erfolg
dabei ist jedoch ungewiss.
Literaturhinweise
Holger Höhfeld: Türkei. Schwellenland der Gegensätze.
Perthes Länderprofile, Gotha 1995
Faruk S¸en, Çigdem Akkaya, Yasemin Özbek:
Länderbericht Türkei, Primus Verlag, Darmstadt 1998
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