Die Rolle der Schule
Kinder türkischer Immigranten befinden sich fast an allen unseren
Schulen (C 3). Ein Schulleiter, der kürzlich nach seinen türkischen
Schülern befragt wurde, antwortete kurz und bündig, dass sie
sich abgesehen von ihren Namen von ihren deutschen Mitschülern in
nichts unterscheiden würden. Kleine Zahlen ausländischer Schüler
sind in unseren Schulen offensichtlich leicht integrierbar. Oft weisen
diese ausländischen Schüler sogar Spitzenleistungen auf. Immerhin
erreichen bereits heute fast zehn Prozent der türkischen Schüler
die deutsche Fachhochschul- oder Hochschulreife. Viele von ihnen werden
anschließend ein Studium an einer deutschen Hochschule aufnehmen.
Hier zeichnet sich bereits die Entstehung einer deutsch-türkischen
Elite ab. Verschiedene Einrichtungen in Stuttgart, wie die Robert-Bosch-Stiftung
und die Markel-Stiftung, versuchen begabten ausländischen Schülern
zu helfen, eine höhere Schullaufbahn einzuschlagen.
Wichtigste Voraussetzung für eine reibungslose Integration in
Schule und Gesellschaft ist zweifellos die Beherrschung der deutschen Sprache.
Durch viele Fördermaßnahmen, beispielsweise Vorbereitungsklassen,
versucht man die vorhandenen Sprachdefizite bei den türkischen Kindern
abzubauen. Die Sprachförderung beginnt im Kindergartenalter. Nach
einem zuerst in Denkendorf in den siebziger Jahren entwickelten Modell
werden ausländische Kinder von Sprachhelferinnen in kleinen Gruppen
unterrichtet. Dabei legt man Wert darauf, dass die Kinder nicht nur in
die deutsche Sprache, sondern auch in die deutschen Lebensverhältnisse
eingeführt werden. Je höher der Ausländeranteil, desto schwieriger
werden die Integrationsbemühungen (C 4). Deshalb versuchen
türkische Eltern in Stuttgart auch, ihre Kinder in einem kirchlichen
Kindergarten unterzubringen, weil dort der Ausländeranteil etwas geringer
ist.
Die Robert-Bosch-Stiftung unterstützt Fördervereine an Hauptschulen,
die sich um die Integration ausländischer Schüler bemühen,
etwa durch Hilfe bei Hausaufgaben, Einrichtung von Schülertreffs und
Arbeitsangeboten, damit Schüler aus sozial schwachen Familien sich
Geld dazuverdienen können.
Es war ein Irrtum anzunehmen, dass die Kinder der dritten und vierten
Generation der Einwanderer die deutsche Sprache besser beherrschen würden
als ihre Eltern und Großeltern. Das mag am Einfluss der türkischen
Medien, an der Ghettosituation oder daran liegen, dass Jahr für Jahr
über 60 000 junge türkische Männer ihre Bräute aus
der Türkei holen, um hier ihre Familien zu gründen (C 5, C
6). Deshalb sind Sprachkurse an unseren Schulen, in denen auch die
türkischen Mütter einbezogen werden, eine besonders wirkungsvolle
Fördermaßnahme. Solche Deutschkurse für türkische
Mütter finden etwa an der Pragschule in Stuttgart und an der Schiller-Schule
in Esslingen statt (C 7). Das Land Baden-Württemberg plant
nach holländischem Vorbild Integrationskurse für Ausländer
einzuführen, um deren Sprach- und Orientierungslosigkeit zu überwinden.
Eine Umfrage unter Türken in Berlin führte zu dem Ergebnis, dass
die Hälfte der Befragten zu geringe Deutschkenntnisse als wichtigste
Ursache der hohen Arbeitslosigkeit unter den Türken in Berlin ansah.
An der Jungbuschschule in Mannheim liegt der Ausländeranteil über
90 Prozent. Trotzdem wird dort erfolgreiche pädagogische Arbeit geleistet
und die Schule liefert keine negativen Schlagzeilen.
Was türkische Schüler können
Türkische Schülerinnen und Schüler können
zum Unterricht vieles beitragen, was ihr Selbstwertgefühl stärkt
und ihnen in der Klasse eine wichtige Rolle zuweist.
Einige Beispiele:
• Fotos und andere Bilder aus der Heimat ihrer Eltern
zeigen
• Von Lebensläufen ihrer Verwandten berichten
• Tagesabläufe in der Türkei und in Deutschland
vergleichen
• Vom Leben auf dem Bauernhof oder im Bazar berichten
• Den Schulalltag oder das Schulsystem in der Türkei
schildern
• Bücher türkischer Autoren/Autorinnen vorstellen
• Über Feste des Islam informieren
• Einen Besuch in der Moschee vorbereiten
K. Schröer
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Es wäre umgekehrt sehr wünschenswert, wenn auch deutsche Schüler
die türkische Sprache erlernen würden. So wird zum Beispiel Türkisch
als Arbeitsgemeinschaft an der Neckar-Realschule in Stuttgart angeboten.
Am Eschbach-Gymnasium Stuttgart-Freiberg wird Türkisch als weitere
Fremdsprache auf der Oberstufe bis zum Abitur unterrichtet. Die Anfänge
des Türkisch-Unterrichts sind allerdings noch bescheiden.
Beim Schülerwettbewerb des Landtags von Baden-Württemberg
wurden seit 1965 immer wieder Themen aufgegriffen, welche die Beziehung
zwischen Deutschen und Immigranten zur Diskussion stellten. Diese Themen
fanden bei den Schülern großen Zuspruch. Auch zahlreiche Preise
entfielen auf entsprechende Arbeiten. Besonders die Arbeiten türkischer
Schüler zeigen, wie das Leben zwischen den Kulturen empfunden wird.
Islam-Unterricht als Schulfach?
Ein wichtiger Beitrag für die Integration könnte die Einführung
eines Islamunterrichts an den Schulen sein. Die türkischen Schüler
würden sich damit stärker als Bestandteil unserer Gesellschaft
fühlen. Und schließlich haben alle Kinder ein Recht auf religiöse
Begleitung. Islamunterricht als reguläres Schulfach wäre zudem
eine gesellschaftlich akzeptierte Alternative zu den Koranschulen. Dem
Kultusministerium Baden-Württemberg liegen dazu Anträge von fünf
islamischen Religionsgemeinschaften vor: Institut für islamische Erziehung,
Zentralrat der Muslime, Religionsgemeinschaft des Islam, Rat für freie
Glaubensausübung und Föderation der Alevitengemeinde. Allerdings
gibt es auch Eingaben muslimischer Eltern gegen einen solchen Unterricht.
Der Islam ist in der Bundesrepublik schon die drittgrößte
Religionsgemeinschaft. Allein in Stuttgart leben mehr als 30 000 Muslime.
Jeder zehnte Schüler bekennt sich zum Islam; zwei Drittel davon sind
Türken: Schwierig ist, dass ein von allen Muslimen autorisierter Ansprechpartner
fehlt (s. Baustein B). Der Islam ist keine Kirche in unserem Sinne und
kennt keine Hierarchie. Auch wären geeignete, deutsch sprechende Islam-Lehrer
auszubilden, und der Islamunterricht müsste sich an den Werten des
Grundgesetzes orientieren. Fraglich ist zudem, ob ein solcher deutscher
Islamunterricht von der Mehrheit der hier lebenden Muslime angenommen würde.
Die fundamentalistische Islamische Föderation - sie wird vom Verfassungsschutz
beobachtet und vertritt nur eine kleine Minderheit - hat sich jetzt in
Berlin das Recht erstritten, an öffentlichen Schulen Religionsunterricht
erteilen zu dürfen. Allerdings ist die endgültige Entscheidung
noch nicht gefallen. Zudem ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
nicht direkt auf andere Länder übertragbar. Im Rahmen eines Modellversuchs
bietet das Land Nordrhein-Westfalen zusätzlich zum muttersprachlichen
Unterricht an 37 Schulen "Islamische Unterweisung" an.
Besuch in einer Moschee
Für deutsche Schüler ist es wichtig, den Islam als Religion
ihrer türkischen Mitschüler näher kennen zu lernen (B
21 bis B 23, C 8 bis C 11). Allerdings ist bei diesem Thema große
Zurückhaltung geboten, um nicht bereits vorhandene Vorurteile zu verstärken.
Es lohnt sich, hier mit Religionslehre zusammenzuarbeiten. Ferner empfiehlt
sich, Wissen und Kompetenz der türkischen Schüler mit einzubeziehen.
So könnten die türkischen Schüler etwa den Besuch einer
Moschee mit vorbereiten und dabei als Dolmetscher mitwirken.
Die deutschen Schüler lernen, dass sich die Muslime in der Moschee
nicht nur zum Beten treffen, sondern dass ihnen dort soziale und kulturelle
Dienste angeboten werden. Als Beispiel dafür kann die von dem als
gemäßigt geltenden Türkisch-Islamischen Kulturverein gebaute
Moschee in Sindelfingen angesehen werden: Im Erdgeschoss befinden sich
ein Supermarkt, kleinere Geschäfte sowie Teestube und Jugendraum.
Den zweiten und dritten Stock nimmt die Moschee mit einer vier Meter hohen
Kuppel ein. Deutlich erkennbar ist die Moschee auch durch das 25 Meter
hohe Minarett. Doch ruft von dort kein Muezzin die Gläubigen zum Gebet.
Für unsere Schüler empfiehlt sich besonders der Besuch einer
der größten Moscheen auf deutschem Boden, die in Mannheim fast
symbolisch zwischen der katholischen Liebfrauenkirche und der jüdischen
Synagoge steht (C 11). Ihr Trägerverein ist der Islamische
Bund. Von Anfang an war sie mit dem deutsch-türkischen Projekt "Begegnung
mit dem Islam" verknüpft. In ihren Seminarräumen finden regelmäßig
christlich-moslemische Gesprächskreise statt.
Vielen Türken gilt die Moschee als identitätsstiftender Heimatersatz.
Die Religion gibt türkischen Jugendlichen Halt in der Fremde und wirkt
sich stabilisierend aus. Wenn türkische Schülerinnen mit Kopftuch
in der Schule erscheinen, kann auch darüber mit der gebotenen Behutsamkeit
gesprochen werden (vgl. dazu P&U 1/1999). Bei einer Behandlung des
Islam darf auch die Information über die großen türkischen
Feste nicht fehlen (B 22). Für eine ausführlichere Erörterung
des Islam eignet sich auch die von der Landeszentrale für politische
Bildung zusammengestellte Wanderausstellung "Islam - Politik, Kultur, Religion.
Schulpartnerschaften
Eine geradezu ideale Form des Kennenlernens und der Begegnung ist die
Begründung einer deutsch-türkischen Schulpartnerschaft. 22 Schulen
in unserem Land pflegen bereits eine solche Partnerschaft (s. Kasten S.
18). Man lernt Land und Leute kennen und das Andersartige schätzen.
Unvergessen bleibt für Schüler bei ihren Besuchen in der Türkei
die überwältigende Gastfreundschaft dort (C 13, C 14). Außerdem
werden die Schüler mit dem außerordentlich hohen Stellenwert
der Familie vertraut. In der Skala der Werte steht sie ganz oben, wie eine
Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung unter Jugendlichen in der Türkei
ergeben hat. Ein deutsch-türkisches Jugendwerk könnte über
die noch bescheidenen Anfangserfolge deutsch-türkischer Schülerbegegnungen
hinausführen. Für die Vorbereitung auf das Leben in einer zunehmend
globalisierten Wirtschaft liefern gerade das interkulturelle Lernen und
internationale Begegnungen und Schulbesuche einen wichtigen Beitrag. Die
Schüler können nicht früh genug lernen, in einer durch die
Globalisierung herbeigeführten Verschränkung verschiedener Kulturkreise
zu leben. Offenheit und Toleranz werden dabei die obersten Lernziele sein.
Erleichterte Einbürgerung
Türkische Immigranten bemängeln seit Jahren, dass ihnen eine
aktive und verantwortungsvolle Teilnahme am politischen Prozess in unserem
Lande verwehrt sei. Voraussetzung dafür ist der Besitz der deutschen
Staatsangehörigkeit. Nach dem deutschen Staatsbürgerrecht ist
für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die Abstammung
von deutschen Eltern, das ius sanguinis, entscheidend. 1993 erfolgte eine
Neuregelung des Ausländerrechts. Demnach konnten junge Ausländer,
wenn sie acht Jahre lang rechtmäßig im Bundesgebiet gelebt und
dort sechs Jahre lang die Schule besucht haben, ihre bisherige Staatsangehörigkeit
aufgeben und die deutsche erwerben. Die Initiative der neuen Bundesregierung
von 1998 zur Einführung einer doppelten Staatsangehörigkeit führte
zu einer breiten und teilweise sehr heißen politischen Diskussion
(C
15, C 16). Ziel des Unterrichts könnte sein, das Pro und Kontra
der doppelten Staatsangehörigkeit klar herauszuarbeiten: einerseits
Globalisierung und Internationalisierung, andererseits Nationalstaat, Loyalitätsverständnis,
Gefahr der Kumulierung von Rechten oder Pflichten.
Das vom Gesetzgeber verabschiedete neue Staatsbürgerrecht (C
17) trat am 1. Januar 2000 in Kraft und ermöglicht eine erleichterte
Einbürgerung:
- Künftig bekommen in Deutschland geborene Kinder von Ausländern
mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Bis zum Alter von
23 Jahren müssen sie sich aber für einen Pass entscheiden (C
18).
- Erwachsene Ausländer erhalten jetzt bereits nach acht (vorher
nach 15) Jahren einen Anspruch auf Einbürgerung unter gewissen Voraussetzungen:
ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, Loyalitätserklärung
zum Grundgesetz, Straflosigkeit und Unterhaltsfähigkeit.
- Grundsätzlich gilt wie bisher: Die doppelte Staatsbürgerschaft
soll nur in Ausnahmefällen gewährt werden.
Schon heute leben in Deutschland mehr als 350 000 deutsche Staatsbürger
türkischer Herkunft. Aufschlussreich ist es, die Entwicklung der Einbürgerungen
in den letzten Jahren zu verfolgen (C 19). Ein Beispiel: Seit 1970
lebt Mevlüde Genc in Deutschland, beim Brandanschlag in Solingen verlor
sie fünf Angehörige; sie hat für sich und ihre Familie die
deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und auch erhalten. Fast vier
Prozent der wahlberechtigten Berliner waren 1998 nicht deutscher Herkunft;
90 Prozent von ihnen stammen aus der Türkei. An der Bundestagswahl
1997 beteiligten sich bereits 160 000 eingebürgerte Türken. Auch
die doppelte Staatsangehörigkeit war bisher nicht gerade selten. In
Deutschland lebten schon 1998 rund zwei Millionen Doppelstaatler, die überwiegend
aus binationalen Ehen stammen. Schon 1995 besaß fast jeder zehnte
Türke in Deutschland zwei Pässe.
Integration und Aufstieg sind möglich
Türkische Immigranten sind heute nicht nur bei der Müllabfuhr
und am Fließband tätig; viele von ihnen haben den Aufstieg und
die Integration geschafft - als Beamte, Angestellte, Anwälte, Architekten,
Ärzte und Unternehmer (C 20 bis C 23). Die Zahl türkischer
Unternehmer steigt in Deutschland von Jahr zu Jahr. Dabei machen sich junge
Türken statt mit einem Döner-Stand oder einem Gemüseladen
zunehmend in Branchen wie EDV und Unternehmensberatung selbstständig.
In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der türkischen Unternehmer
von 28 000 auf weit mehr als 50 000 angewachsen, fast 9000 davon allein
in Baden-Württemberg. In unserem Bundesland haben türkische Unternehmen
wesentlich mehr Erfolg als in anderen Bundesländern, so das Ergebnis
einer Studie des Zentrums für Türkeistudien.
Als eines unter vielen Beispielen kann der Erfolg von Vural Öger
als Reiseunternehmer genannt werden (C 22). Die Türken bilden
heute die größte Gruppe unter den ausländischen Selbstständigen
(C
24). Türkische Unternehmen beschäftigen in Deutschland mehr
als 265 000 Arbeitnehmer, ein Fünftel davon sind Deutsche. Allein
im Großraum Stuttgart befinden sich über 2000 türkische
Unternehmen. Siebzehn türkische Unternehmer sind 1999 von der IHK
Stuttgart zu Ausbildern ernannt worden.
Als Beispiel für den Aufstieg eines Türken in die Politik
und in den Bundestag ist Cem Özdemir bekannt, der anatolische Schwabe
(C
25). Gerade seine Biographie kann den Schülern zeigen, wie Aufstieg
und Integration möglich sind. Er selbst sagt: "Diese Gesellschaft
ist schwer beweglich, aber sie ist beweglich. Und sie ermöglicht den
Einstieg auch für Quereinsteiger wie mich, die von außen kommen."
Es lassen sich leicht Beispiele aus weiteren Berufsgruppen finden.
Dass die deutsche Gesellschaft auch der türkischen Frau einen Aufstieg
ermöglicht, zeigt der Bericht der Bankkauffrau Hülja Kalan (C
21). Vielen Schülern dürften deutsch-türkische Schauspieler
bekannt sein, etwa der in München aufgewachsene Topstar Erol Sander
(als Krimiheld Sinan Toprak). Schließlich darf an erfolgreiche deutsch-türkische
Autoren wie Selim Özdogan ("Ein gutes Leben ist die beste Rache")
erinnert werden. Bei dem von dem Türken Sinasi Dikmen in Frankfurt/M
geleiteten Kabarett steht die Integration der Türken in Deutschland
ganz im Mittelpunkt. Bekannt sind die Bücher des deutsch-türkischen
Schriftstellers Feridun Zaimoglu (Kanaksprak, Abschaum, Koppstoff), der
den Begriff "Kanake" als Bekenntnis zur Identität etablierte.
An vielen Schulen haben sich türkische Schüler schon durch
besondere Leistungen hervorgetan. Über unsere Landesgrenzen hinaus
bekannt wurde Meryem Akdenizli, Preisträgerin von "Jugend musiziert".
Deutsch-türkischer Dialog
Um Diskriminierung, Feindschaft und Vorurteilen entgegenzuwirken, ist
ein kontinuierlicher Dialog zwischen Türken und Deutschen auf allen
gesellschaftlichen Ebenen unverzichtbar. An vielen Kindergärten und
Schulen sind türkische Eltern aktiv und in den verschiedenen
Gremien der Schulen vertreten. Im Interesse der türkischen Schüler
hat sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen ihren Eltern sowie
Lehrern und Schulleitung entwickelt. Türkische Schüler können
sich zu den großen Festen des Islam, dem Fastenbrechenfest und dem
Opferfest, vom Unterricht beurlauben lassen. Sich näher zu kommen,
sich kennen zu lernen, das Andersartige und Fremde akzeptieren zu lernen
bedeutet allmählich die Ablösung des Nebeneinander durch ein
Miteinander.
Die türkische Theatergruppe Tüyo in Esslingen greift neben
deutschen auch die kulturellen Traditionen Anatoliens auf und bringt Stücke
in deutscher und türkischer Sprache zur Aufführung. Eine Internetseite
gibt einen Einblick in das vielfältige Vereinsleben der türkischen
Bürger in Esslingen und bietet zusätzliche Informationen über
Grundelemente des Islam an:
(http://www.hfs.esslingen.de/~ottmann/muezzin/projekt.htm).
Unter den deutsch-türkischen Gruppen ist die bekannte Gruppe Cartel
von 1995 zu nennen; sie verkündet: "Du bist Türke ... in Deutschland
... Wir ... zeigen, dass das Land auch unser Land ist". Das Projekt "Merhaba"
der Thomas-Morus-Akademie Bensberg wendet sich an türkische Oberstufenschülerinnen
und Studentinnen, um ihnen ein Forum für ihre Diskussionen über
Lebens- und Berufsplanung und ihre Rolle in der deutschen und türkischen
Gesellschaft zu geben.
Die politischen Parteien haben die türkischen Immigranten schon
länger entdeckt. So existieren eine türkisch-deutsche Union in
Berlin, eine liberal-türkische Vereinigung, eine deutsch-türkische
Interessengemeinschaft in Hamburg und ein deutsch- türkisches Forum
in Nordrhein-Westfalen. Die Gesellschaft für Christlich-Islamische
Begegnung und Zusammenarbeit in Stuttgart bietet ein Podium für Gespräche
zwischen den großen Religionen. In Filderstadt besteht eine
Christlich-Islamische Gesellschaft, die sich zum Ziel setzt, die Integration
junger Moslems in die deutsche Gesellschaft zu fördern.
Eine Reihe von Stiftungen und Institutionen organisiert den Dialog
zwischen Deutschen und Türken und bemüht sich um die Schaffung
tragfähiger Grundlagen. An erster Stelle ist hier das von Faruk S¸en
1985 gegründete Zentrum für Türkische Studien in Essen zu
nennen, das einerseits die gesellschaftliche Entwicklung in der Türkei
verfolgt und sich andererseits mit der Migration in die Bundesrepublik
befasst. In Hamburg wurde 1998 die Deutsch-türkische Stiftung gegründet,
die für die rechtliche und soziale Gleichberechtigung der Türken
eintritt.
Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
hat 1999 für Pädagogen, die türkische Schüler unterrichten,
eine Studien- und Begegnungsreise in die Türkei durchgeführt.
Ziel der Reise war es, den Teilnehmern einen nachhaltigen Eindruck türkischer
Lebensverhältnisse und Gesprächskontakte zu vermitteln. Auf dem
Programm standen Besuche in Schulen und Betrieben, daneben Gespräche
mit Politikern, Journalisten, Vertretern von Ministerien und mit dem türkischen
Verein für Menschenrechte in Ankara. Solche Reisen, die ein Kennenlernen
aus erster Hand ermöglichen, werden auch künftig einen wichtigen
Beitrag für das gegenseitige Verstehen leisten. Dazu tragen ferner
die von der Landeszentrale für politische Bildung zu diesem Themenkreis
angebotenen Seminare bei.
Das jetzt in Stuttgart gegründete, von der Robert-Bosch - Stiftung
unterstützte Deutsch-Türkische Forum hat sich zum Ziel gesetzt,
die Verständigung zwischen Türken und Deutschen zu fördern
und dabei auch kontroverse Themen offen zu diskutieren. Fast drei Viertel
der türkischen Vereine in Stadt und Region Stuttgart wollen mitarbeiten.
Die Aufnahme der Türkei in Helsinki als Beitrittskandidat der
Europäischen Union hatte für die hier lebenden Türken eine
nicht zu unterschätzende Bedeutung. Sie fühlen sich jetzt dem
größeren Europa zugehörig. Die Integration in die deutsche
Gesellschaft dürfte dadurch gefördert werden, auch wenn bis zum
endgültigen Beitritt der Türkei in die Europäische Union
noch einige Jahre vergehen werden.
Heimat und doch nicht Heimat
Die Beschreibungen vom Aufstieg und Erfolg türkischer Immigranten
dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Integration
der Türken in unsere Gesellschaft noch längst nicht als gelöst
betrachtet werden darf. So ist etwa die Arbeitslosigkeit der türkischen
Bevölkerung hier doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Von den
67 000 türkischen Schülern besucht nur jeder dreiundzwanzigste
ein Gymnasium, dagegen jeder fünfzehnte eine Sonderschule. Dreimal
so hoch ist die Abbrecherquote von Ausländern in der Hauptschule.
Die Ghettoisierung und auch Isolierung der Türken in einzelnen Stadtteilen
ist nicht zu übersehen. Neun Prozent der Ausländer beziehen Sozialhilfe,
bei den Deutschen liegt der Anteil bei drei Prozent.
Der Konflikt zwischen den alten dörflichen Traditionen und den
Erfordernissen einer modernen pluralistischen Gesellschaft bricht immer
wieder in den hier lebenden türkischen Familien auf (C 26).
Das Nirgends - recht-zu-Hause - Sein hat ein türkischer Schüler
schon 1989 in seinem Gedicht "Heimatlos" zum Ausdruck gebracht (C 28).
In der Umgangssprache heißt es lapidar: "Weisch, zu Haus, net
richtig zu Haus und in Türkei Ausländer". Selbst wenn der türkische
Immigrant gutes Deutsch spricht, leugnet er nicht, dass er türkisch
träumt. Die Verwurzelung in der türkischen Familie bleibt bestehen.
Die Verbundenheit mit der alten Heimat dokumentiert sich auch in der Tatsache,
dass über 90 Prozent der in Deutschland verstorbenen Türken zur
letzten Ruhe in die alte Heimat überführt werden.
Kulturell bleiben die Türken über Fernsehen und Zeitungen
mit ihrer alten Heimat verbunden. Die türkische Zeitungslandschaft
ist mit nach Deutschland gewandert (C 29). Die bekanntesten Zeitungen sind
Hürriyet, Milliyet und Sabah. Hürriyet ist die auflagenstärkste
ausländische Zeitung in Europa. Die zwei oder drei lokalen Seiten
für Deutschland werden zwar in Deutschland recherchiert, aber in Istanbul
redigiert.
In Berlin wurde kürzlich die Zeitung "Etap" gegründet, die
in Deutsch herauskommt und sich an ein junges Publikum unter den Deutsch-Türken
wendet. In Stuttgart erschien jetzt die erste zweisprachige deutsch-türkische
Wochenzeitung "Mosaik", die sich an die 115 000 in der Region lebenden
türkischen Immigranten wendet. Die Türkei kommt in "Mosaik" nur
noch auf einer Seite vor. Selbst Hürriyet prüft jetzt Möglichkeiten
einer deutschsprachigen Tageszeitung für Türken in Deutschland,
um die hier lebende dritte und vierte Generation der türkischen Immigranten
besser zu erreichen.
Sind also Deutschlands Türken Türken geblieben? Wo ist ihre
Heimat? Ömer Özkan, Lehrer im Kommunikationszentrum für
arbeitslose Türken in Stuttgart, unterscheidet drei Typen der Integration
der türkischen "Deutschländer":
- Solche, die auch in Deutschland nur aufrecht erhalten wollen, was sie
im Rucksack aus der Türkei eingeschleppt haben.
- Die Gruppe derer, die sich unverzüglich einen neuen Rucksack gesucht
hat.
- Und schließlich die Gruppe, die sich aus dem Alten und dem Neuen
eine neue Identität bastelt.
Die Einwanderung einer größeren Volksgruppe in ein fremdes Land
hat sich noch nie in der Geschichte ohne Probleme vollzogen. Auch die große
Zahl deutscher und europäischer Einwanderer in die Vereinigten Staaten
von Amerika im 19. Jahrhundert hat dort anfangs fremdenfeindliche Gewalt
ausgelöst. Ihr Anteil an der Gruppe der Empfänger öffentlicher
Leistungen und an den Gefängnisinsassen war damals überproportional
hoch. Die Ghettobildung ermöglichte im Übrigen wie heute eine
graduelle Anpassung an das Gastland.
Die Integration der Immigranten in unsere Gesellschaft wird deshalb
ein langer Prozess sein, der nicht von heute auf morgen bewerkstelligt
werden kann. Die Risiken bleiben; aber die Chancen sind größer.
Die türkische Minderheit wächst allmählich in die deutsche
Gesellschaft hinein. Deutschland ist heute ohne den türkischen Beitrag
für die Wirtschaft nicht mehr vorstellbar. Auch auf vielen anderen
Gebieten ist der Beitrag der türkischen Immigranten nicht mehr wegzudenken.
Toleranz und Integration bleiben aber besonders für die Schulen
eine der wichtigsten Aufgaben, die Tag für Tag im Klassenzimmer, im
Pausenhof und bei Schulprojekten bewältigt werden muss. Die
Kinder der ausländischen Immigranten dürfen nicht allein gelassen
werden. Die bereits sichtbaren Erfolge machen Mut für neue Projekte
und Konzepte. Die interkulturelle Kompetenz wird im 21. Jahrhundert zu
einer Schlüsselkompetenz für alle Schülerinnen und Schüler.
Menschenrechte im Internet
Unter der Adresse www.dadalos.org finden sich im Internet umfangreiche
Informationen und Unterrichtsmaterialien zu den Themen Menschenrechte und
Demokratie:
-
Originaldokumente, Presseartikel, Liedertexte, Photos, Schaubilder, Unterrichtsideen
und vieles mehr. Die Themenkomplexe werden ständig aktualisiert und
erweitert. Als nächstes ist eine Einheit zur Europäischen Integration
vorgesehen.
-
Die Besonderheit dieses neuen Bildungsservers: er ist zweisprachig (Deutsch
und Serbokroatisch) und wendet sich an Lehrende in Deutschland und im ehemaligen
Jugoslawien. Ab November diesen Jahres geht zusätzlich eine
albanische Version für Lehrer im Kosovo online. Auf diese Weise sollen
auch Kontakte und Kooperationen zwischen Schulen in Deutschland und Südost-Europa
angestoßen werden.
Mehr Informationen:
Ingrid.Halbritter@dadalos.org
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