Vierzig Jahre Migration
Am 30.10.1961 wurde die türkisch-deutsche Vereinbarung über
die Anwerbung von Arbeitskräften abgeschlossen. Wie bei den vorausgehenden
Anwerbe-Abkommen mit anderen Ländern (Italien 1955, Spanien und Griechenland
1960) ging auch bei der Türkei die Initiative vom "Entsendeland" aus.
Die damalige türkische Militärregierung beabsichtigte, durch
eine befristete Emigration den Arbeitsmarkt zu entlasten, dringend benötigte
Devisen ins Land zu bringen und durch das Know-how der qualifizierten Rückkehrer
die wirtschaftliche Modernisierung in der Türkei zu fördern.
Zudem wollte die Regierung die bisher individuelle, meist mit Hilfe kommerzieller
Übersetzungsbüros stattfindende Migration von Arbeitskräften
unter Kontrolle bringen.
Auf der anderen Seite gab es in der Bundesrepublik seit 1952 eine Diskussion
darüber, ob und wie man den Arbeitskräftemangel durch die Anwerbung
ausländischer Arbeitnehmer mindern könne. Das starke Wirtschaftswachstum
bedingte einen großen Arbeitskräftebedarf. Obwohl durch die
Fluchtbewegung aus der DDR auch viele Arbeitskräfte kamen, stellten
die deutschen Behörden 1960 fest, die Arbeitskräftereserven der
Bundesrepublik lägen in der Hauptsache bei ausländischen Arbeitnehmern.
Das Arbeitsministerium ließ seine Bedenken gegen den Abschluss eines
Abkommens mit der Türkei fallen. Eine Rolle beim Zustandekommen des
Abkommens spielte auch der Hinweis des türkischen Botschafters im
Dezember 1960, seine Regierung betrachte die Ablehnung ihres Wunsches nach
einem Vertrag als Zurücksetzung des Nato-Mitgliedes Türkei insbesondere
gegenüber Griechenland.
Im November 1961 kamen die ersten 2100 türkischen "Gastarbeiter"
auf der Grundlage des Anwerbeabkommens nach Deutschland. Damit beginnt
eine vierzigjährige Migrationsgeschichte (B 2, B 3). Der Mauerbau
1961 stoppte die Wanderung aus dem Osten und begünstigte den raschen
Zustrom türkischer Arbeitskräfte.
Phasen der Migration
Die Migrationsforschung (Falk, S. 149 ff.) unterscheidet
vier Phasen der Migration in die Bundesrepublik:
1. Die Arbeitsmigration 1961 bis 1973
2. Der verstärkte Familiennachzug nach dem Anwerbestopp
1973
3. Die Phase der faktischen Niederlassung seit 1980
4. Die Minderheitenbildung seit Ende der achtziger Jahre
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Zur Anwerbung der türkischen Arbeitskräfte richtete die Bundesanstalt
für Arbeit in Istanbul eine deutsche Verbindungsstelle ein. Diese
nahm die Auswahl auf der Grundlage einer beruflichen Eignungsprüfung
und einer medizinischen Untersuchung vor. Von 1961 bis 1973 forderten die
Unternehmen rund 710 000 Arbeitskräfte aus der Türkei an (B
4, B 5). Das Ausbildungs- und Qualifikationsniveau der ersten Generation
türkischer Arbeitsmigranten war relativ niedrig, allerdings nicht
niedriger als das der Arbeitskräfte anderer Länder. Die Zugereisten
lebten zum größten Teil in von den Unternehmen zur Verfügung
gestellten Gemeinschaftsunterkünften. Wegen der Enge traf man sich
in der Freizeit oft an Bahnhöfen, in Parks oder in Kneipen (B 6).
An ihren Lebensstandard stellten die türkischen Arbeiter minimale
Anforderungen, um einen Großteil ihres Verdienstes in die Türkei
schicken zu können. Dieser Geldtransfer war bis Ende der siebziger
Jahre fast so hoch wie die Einnahmen des türkischen Staates aus Exporten.
Die türkischen Arbeitnehmer fühlten sich in Deutschland in der
Fremde (B 7, B 8). Meist hatten sie auch den Wunsch, in die Türkei
zurückzukehren, um sich dort mit dem Ersparten eine Existenz aufzubauen.
Die türkischen Arbeitskräfte waren in der deutschen Industrie
sehr begehrt (B 9, B 11). Ein Rotationsprinzip (Begrenzung der Arbeitserlaubnis
auf zwei Jahre), hatte das Bundesinnenministerium durchgesetzt, lag aber
auch im Interesse der türkischen Regierung (Kontrolle der Migration,
Rückkehr qualifizierter Arbeitnehmer). Dieses Prinzip wurde auf Drängen
der deutschen Wirtschaft schon 1962 faktisch, 1964 auch formell fallen
gelassen Das Abkommen über soziale Sicherheit vom 30.4.1964 bezog
nach dem zweiten auch das dritte und jedes weitere Kind in die deutsche
Kindergeldregelung ein und stellte die türkischen Arbeitnehmer mit
den deutschen sozialrechtlich weitgehend gleich. (Fremde Heimat, S. 76
f.)
Wendepunkte
Ein entscheidender Wendepunkt in der Migration war der Anwerbestopp
von 1973. Diese Maßnahme, bedingt durch wirtschaftliche Schwierigkeiten
(Rezession 1967, Ölkrise 1973), sollte die Zahl der Ausländer
in der Bundesrepublik vermindern. Tatsächlich hatte sie jedoch den
entgegengesetzten Effekt. Viele Türken befürchteten, noch strengere
Regelungen zur Familienzusammenführung könnten folgen, und ließen
deshalb ihre Familien verstärkt in die Bundesrepublik nachkommen.
Wie bei den Ausländern insgesamt, stieg auch bei den Türken die
Wohnbevölkerung kontinuierlich an, während sich der Anteil der
Arbeitnehmer bei etwa einem Drittel konsolidierte (B 12).
Ein neuer Wendepunkt ergab sich 1980 durch den zweiten Militärputsch
in der Türkei. Regimegegner - Türken wie Kurden - kamen nun als
Asylbewerber in die Bundesrepublik, in den achtziger Jahren insgesamt etwa
125 000 Personen. Man bezeichnet die achtziger Jahre als Phase der faktischen
Niederlassung. Eine Rolle spielten dabei die politische und wirtschaftliche
Lage in der Türkei; nach offiziellen Angaben betrug die Arbeitslosenquote
1983 über 18 Prozent.
Zudem war eine Rückkehr in die Heimat irreversibel - für
türkische Migranten bestand wegen der Nichtmitgliedschaft in der EG
keine
Freizügigkeit. Der Zeitpunkt für eine Rückkehr wurde deshalb
auf später verschoben. Da auch die medizinische Versorgung sowie die
Schul- und Berufsausbildung in Deutschland besser waren, stieg die Aufenthaltsdauer
immer weiter an (B 13). 1982 hielten sich 37 Prozent der türkischen
Staatsangehörigen länger als zehn Jahre in der Bundesrepublik
auf, heute sind es rund 60 Prozent. Heute sind drei Viertel aller unter
Fünfzehnjährigen in der Bundesrepublik geboren. Durch eine Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofes im Musterprozess "Kazim Kus" wurde
das Bleiberecht der Türken wesentlich gestärkt.
Leben als Minderheit
Seit dem Ende der achtziger Jahre bilden die türkischen Staatsangehörigen
als Minderheit einen festen Bestandteil in der Gesellschaft der Bundesrepublik.
Heute leben 2,1 Millionen Türken bei uns (B 1), der größte
Teil in den Ballungsgebieten Nordrhein-Westfalens und Baden-Württembergs.
Die rund 250 000 Bürger türkischer Herkunft, die mittlerweile
den deutschen Pass haben, sind dabei nicht mitgerechnet. Für den Großteil
der hier geborenen zweiten und dritten Generation (B 16, B 17) ist
ein Leben in der Türkei keine Option mehr; die persönliche und
berufliche Zukunft wird in Deutschland geplant. Diese Entwicklung lässt
sich an einigen Merkmalen zeigen.
1. Seit den achtziger Jahren bildeten sich viele Vereine (1995 ca.
1900), die nicht mehr, wie in den sechziger Jahren, parteipolitisch und
gewerkschaftlich ausgerichtet sind, sondern berufliche, kulturelle, soziale
und Freizeitinteressen abdecken: Sportvereine, Kultur- und Freizeitvereine,
Elternvereine, Vereinigungen bestimmter Berufs- und Interessengruppen (wie
Mediziner, Lehrer, Unternehmer oder Kaufleute). Daneben gibt es eine große
Zahl islamischer Vereine und Moscheevereine.
2. Türken leisten heute einen wichtigen Beitrag zur deutschen
Wirtschaft. Das Hauptinteresse liegt nicht mehr im Ansparen von Geldmitteln
für eine Existenzgründung in der Türkei. Auch als Konsumenten
sind türkische Haushalte ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor geworden.
Von den gegenwärtig 500 000 türkischen Haushalten haben
über 55 000 eine Eigentumswohnung oder ein Eigenheim erworben. Zudem
haben 135 000 Türken Bausparverträge abgeschlossen.
3. Die türkische Bevölkerung in Deutschland differenziert
sich in sozialer und ökonomischer Hinsicht. 1972 waren noch 84 Prozent
der männlichen Türken als ungelernte oder angelernte Arbeiter
und nur 16 Prozent als Facharbeiter tätig. 1993 arbeiteten noch 50
Prozent der türkischen Erwerbstätigen als un- oder angelernte
Arbeiter, 25 Prozent als Facharbeiter und abhängige Handwerker, 17
Prozent als Angestellte, 6 Prozent sind selbstständig. In den letzten
zehn Jahren ist ein neuer türkischer Mittelstand entstanden (B 14),
dessen sozialer Aufstieg vorrangig durch die Selbstständigkeit erfolgte.
4. Viele türkische Jugendliche nutzen die Bildungs- und Berufs-Chancen,
die sich ihnen in der Bundesrepublik bieten. Immer mehr verlassen die typischen
"Gastarbeiterberufe" und kommen im Dienstleistungssektor unter. Diese
Entwicklung zeigt sich auch in der steigenden Zahl türkischer Studenten
an deutschen Hochschulen. Von ihnen war der überwiegende Teil in Deutschland
geboren worden und zur Schule gegangen. Über 60 Prozent der türkischen
Studenten kommen aus Arbeiterfamilien. Sie beginnen ihr Studium mit großem
familiärem Rückhalt. Viele Eltern haben aus ihrer Heimat die
Einstellung mitgebracht, nur ein Studium könne einen beruflichen Aufstieg
und eine spätere Karriere vorbereiten. Im Sommersemester 1997 studierten
über 21 000 türkische Studenten an deutschen Hochschulen. In
den letzten Jahren befinden sich unter den türkischen Studierenden
auch immer mehr Frauen. Diese Kinder der ersten Migrantengeneration werden
in Zukunft den Aufstieg der türkischen Minderheit in die Mittel- und
Oberschicht fördern. Auch in der Fächerwahl gibt es Veränderungen:
Studierte früher die Mehrzahl der türkischen Studenten Fächer
wie Ingenieur- oder Naturwissenschaften, die besonders in der Türkei
gute Berufsaussichten boten, so überwiegen heute Fächer wie Jura
oder Lehramt, deren Zukunftschancen vor allem in der Bundesrepublik liegen
(B
15). Immer mehr stellt sich für die heranwachsenden Türken
die Frage, wo ihre Heimat ist: in Deutschland, dessen Sprache sie sprechen,
oder in der Türkei, das Land, aus dem ihre Familien und Vorfahren
stammen, oder in beiden (B 16).
Leben zwischen zwei Kulturen
Integration bedeutet sowohl den Prozess als auch das Ergebnis der Eingliederung
einer Person, einer sozialen oder ethnischen Minderheit in eine Gesellschaft.
Lutz Hoffmann stellt fest, dass sich die Integration der "Gastarbeiter"
durch die unvermeidbare Übernahme von Rollen in einer funktional differenzierten
Gesellschaft von selbst vollzog. Staaten, die diesen Prozess verhindern
wollen, bedienen sich des Rotationsprinzips (wie die Schweiz). Dieses Prinzip
galt anfangs auch in der Bundesrepublik, wurde aber auf Drängen der
Wirtschaft bald fallen gelassen.
Ebenen der Integration
In Anlehnung an Lutz Hoffmann kann man zwischen unterschiedlichen
Ebenen der Integration unterscheiden.
- Gesellschaftliche Ebene: Übernahme beruflicher und
gesellschaftlicher Positionen und Rollen in der Aufnahmegesellschaft
(Arbeitnehmer, Schülerin, Vereinsmitglied etc.).
- Rechtliche Ebene: Akzeptanz der Rechtsordnung der Aufnahmegesellschaft.
Zur Wahrung seiner Rechte bedient sich der Migrant der Normen und Wege
des Rechtsstaats. Die rechtliche Integration, d.h. die Akzeptanz der Rechtsordnung,
hat auch eine große Bedeutung für die Erhaltung des sozialen
Friedens, z.B. in dem Konflikt zwischen Türken und Kurden.
- Kulturelle Ebene: Übernahme von Sprache, Normen,
Wertvorstellungen, Lebensformen, Gewohnheiten der Aufnahmegesellschaft.
- Politische Ebene: Der entscheidende Schritt zur politischen
Integration ist die Gewährung der Staatsbürgerschaft (vgl. Baustein C).
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Integration als Problem türkischer Familien
Das Modell von Lutz Hoffmann (vgl. Kasten oben rechts) könnte man
anhand des Textes "Durchweinte Nächte" (B 18) didaktisch umsetzen.
Der Text stammt aus der Lebenswirklichkeit einer jungen Türkin. Die
Begriffe Gruppe, Position, Rolle, Sozialisation und Integration sind Stoff
in Gemeinschaftskunde im Sekundarbereich I.
Mögliche Aufgaben dazu: 1. Welchen Gruppen gehört Aylin an?
2. Welche Rollen übernimmt sie in diesen Gruppen? 3. Welche Erwartungen
stellen die Gruppen an Aylin? 4. Beschreibe die Konflikte, die sich auf
Grund von Aylins Zugehörigkeit zu den verschiedenen Gruppen ergeben.
Bei der Analyse des Textes ergibt sich, dass die Situation Aylins in
vieler Hinsicht derjenigen der deutschen Mitschüler gleicht: Freundschaften,
Auseinandersetzungen mit Mitschülern, Familie, Krach mit den Eltern.
Doch darüber hinaus lebt sie in einer Spannung, welche die deutschen
Schüler nicht kennen: Bindung an die kulturellen und religiösen
Traditionen der Familie und türkischen Minderheit einerseits, Anpassung
an die Normen der deutschen Gesellschaft andererseits. Dieses Spannungsverhältnis
belastet sie besonders. Es bedeutet für sie Identitätskrise,
innere Zweifel, Gewissenskonflikte, drohende Entfremdung von den Eltern,
von den Verwandten, von der Heimat. Nach der Analyse des Textes ist auch
eine Umsetzung in einem Rollenspiel denkbar.
Aus der Sicht türkischer Eltern ergibt sich die Frage, ob die
Sozialisation ihrer Kinder in ihrem Sinn verläuft. Diese Frage ist
für Eltern in allen Gesellschaften relevant. Wo sich bisher fest gefügte
Verhältnisse durch Struktur- und Wertewandel auflösen, entsteht
in den Familien ein Konfliktpotenzial. Für türkische Migrantenfamilien
ist dieses Problem besonders drückend, da der kulturelle Abstand zur
Aufnahmegesellschaft sehr groß ist. Stammen sie aus dörflichen
Verhältnissen, dann haben sie stabile Lebensbedingungen aufgegeben,
unter denen sich die Sozialisation der Kinder beinahe naturwüchsig
vollzieht. In Deutschland leben sie meist in einer städtischen Umwelt,
die von großer Freizügigkeit, Dynamik, Modernität und Konsumorientierung
geprägt ist.
Durch die Berührung der Kinder mit dem gesellschaftlichen Umfeld
vollzieht sich bei ihnen ein Sozialisationsprozess, auf den außerfamiliäre
Instanzen einwirken: Kindergarten, Schule, Jugendgruppen, Freunde und Freundinnen
sowie die Medien. Die Eltern müssen damit rechnen, dass die Kinder
andere, den elterlichen Vorstellungen oft widersprechende Normen und Werte
übernehmen, wenn sie sich diese Lebenswelt eigenständig aneignen.
"Die Eltern sehen sich vor einen Zielkonflikt gestellt. Sie müssen
abwägen zwischen der Notwendigkeit, die Kinder auf die Gesellschaft
vorzubereiten und der Notwendigkeit, sie vor der Gesellschaft zu schützen"
(Schiffauer, S. 241), wenn sie ihre Kinder traditionell erziehen wollen.
Das Konfliktpotential innerhalb der Familie, das hier sichtbar wird, kann
zu Schulversagen, zum Abgleiten in die Kriminalität oder zur familiären
Katastrophe führen. Elterliche Erziehungsmaßnahmen, die auf
Zwang und physischer Gewalt beruhen, wirken oft kontraproduktiv, da sie,
anstatt die Kinder wieder in die Familie einzubinden, zu zunehmender
Entfremdung führen können.
Wir müssen uns allerdings klar machen, dass es die türkische
Familie weder in der Türkei noch in der Bundesrepublik gibt. Die Herkunft
spielt eine entscheidende Rolle in der Erziehung der Kinder. Besonders
für traditionell geprägte Familien ist die Erziehung in der Bundesrepublik
ein großes Problem. Aus Angst vor der Entfremdung ihrer Kinder von
der Familie und der Heimat ihrer Eltern werden vor allem Mädchen in
Deutschland oft sogar traditionsbewusster erzogen, als dies in der Türkei
der Fall wäre.
Ein traditionelles Familienverständnis kommt auch darin zum Ausdruck,
dass viele Türken, die hier aufgewachsen sind, ihren Ehepartner in
der Türkei suchen (vgl. Baustein C). Anhand des Textes B
19 können die Schüler die unterschiedlichen Erziehungsstrategien
erörtern. Während Asiz seinen Sohn bewusst mit den "Gefahren"
der Gesellschaft konfrontieren will, um ihn dagegen zu wappnen, wählen
Yasar und Fatma den Rückzug in die Isolation. Sie setzen eher auf
zusätzliche pädagogische Institutionen wie den Korankurs (B
20). Eine solche Erziehungsstrategie kann die Integration türkischer
Jugendlicher erschweren.
Der Islam der Türken in Deutschland
Neben den beiden christlichen Konfessionen bildet der Islam die drittgrößte
Religionsgemeinschaft in Deutschland. Heute leben drei Millionen Muslime
in Deutschland, von denen etwa zwei Drittel türkische Staatsbürger
sind. Sie umfassen 98 Prozent der 2,1 Millionen in Deutschland lebenden
Türken. Ein Prozent sind Yeziden (eine Mischreligion aus Christentum,
Islam und Zoroastrismus in einigen Dutzend Dörfern Südostanatoliens).
Sie gehören zur ethnischen Gruppe der Kurden. Ein weiteres Prozent
sind Christen.
Viele Deutsche sehen in der ihnen fremd erscheinenden Religion des
Islam ein echtes Integrationshemmnis. Kopftuch, die Rolle der Frau, islamischer
Fundamentalismus und Fanatismus sind Reizthemen, die beinahe reflexhaft
erwähnt werden, wenn man von Türken spricht (B 24, B 25).
An ihnen entzündet sich die Angst vor Überfremdung, vor islamischen
Ghettos, vor Entstehung sozialer Konflikte und Gefährdung des inneren
Friedens. (Karikatur C 15: Das Minarett ist höher als der Kölner
Dom; die türkische Flagge auf dem Minarett verweist auf die Furcht
vor Fremdsteuerung.) Wie weit solche Befürchtungen objektiv begründet
sind, ist schwer zu beurteilen. Die fundamentalistischen Gruppen in Deutschland,
deren Demokratieverständnis fraglich ist, werden vom Verfassungsschutz
beobachtet (z.B. IGMG und ICCB).
Faruk S¸en vom Zentrum für Türkeistudien weist darauf
hin, dass jeder dritte Türke in der Bundesrepublik praktizierender
Muslim ist. Verglichen mit christlichen Konfessionen mag diese Zahl hoch
erscheinen. Dies bedeutet aber auch, dass zwei Drittel der türkischen
Migranten säkular eingestellt sind. Zudem vertritt die größte
islamische Gruppe in Deutschland - die DITIB - einen gemäßigten
Standpunkt. Sie wurde vom Präsidium für Religionsangelegenheiten
(DIB) ins Leben gerufen, um dem wachsenden Einfluss fundamentalistischer
Kräfte auf die Türken in Deutschland entgegenzuwirken. Islamistische
Gruppen in der Türkei betrachten die Türken in Deutschland als
eine wichtige Zielgruppe, da sie wegen der Religionsfreiheit in Deutschland
freier agieren können als in der Türkei selbst.
In Deutschland bildeten sich bis Mitte der neunziger Jahre etwa 1200
türkische Moscheegemeinden. Die meisten schlossen sich größeren
Dachverbänden an, von denen sie bei der Bemühung um einen Imam
oder Hoca und um Finanzmittel unterstützt werden.
So sehr einzelne Richtungen des Islam zentralistische und hierarchische
Strukturen aufweisen, so wenig besteht im Islam in Deutschland insgesamt
eine übergeordnete organisatorische Struktur. Es gibt vielmehr eine
Vielfalt von Gruppierungen, die voneinander unabhängig sind und teilweise
gegensätzliche Vorstellungen vertreten. Dazu kommt, dass sich die
Namen immer wieder verändern können und sie in den Medien auch
unterschiedlich übersetzt werden. Dies macht die Lage unübersichtlich.
Beim Religionsunterricht ergibt sich das Problem, dass ein einheitlicher
Ansprechpartner fehlt.
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Obwohl die Rückkehrneigung der türkischen Migranten in der
Bundesrepublik stark nachgelassen hat und die Integration fortschreitet,
verstärkt sich andererseits die Hinwendung zum Islam. Faruk S¸en
führt dies auf das Leben als kulturelle und religiöse Minderheit
in der Diaspora zurück. So können Menschen, die in der Türkei
weniger religiös waren, in Deutschland eine starke Verbundenheit zu
ihrer Religion entwickeln. S¸en stellt die Frage, ob Religion weniger
ein Hemmnis als vielmehr ein Bestandteil der Integration sei. (S¸en/Goldberg,
S. 91)
Die Materialien (B 21 bis B 23) vermitteln Grundkenntnisse zum
Islam und können Anregung für vertiefende Unterrichtsgespräche
sein. Als Einstieg könnte die Frage dienen: Welche Gemeinsamkeiten
gibt es im Alltag? (Gemeinsame Wurzeln bei Namen: Adem/Adam, Ibrahim/Abraham,
Davut/David, Cebrail/Gabriel. Fasten bei Muslimen und Christen. Religiöse
Feste.) Hier empfiehlt sich der fächerverbindende Unterricht mit Religion.
Wenn in der Nähe eine Moschee vorhanden ist, können sich die
Schüler erkundigen, wann die Feste stattfinden (B 23). Im Jahr
2000 war das Opferfest am 16. März; da es jedes Jahr um zehn Tage
vorrückt, ist der Termin im Jahr 2001 der 6. März.
Ein zweiter, eher gemeinschaftskundlicher Aspekt ist die Frage, welche
Bedeutung die Migrationsbedingungen, die der Situation in der Diaspora
entsprechen, für die religiöse Praxis der Muslime haben: Probleme
beim Bau einer Moschee in einer christlichen Gemeinde, Beten des Namaz
in einem christlichen Umfeld; Befürchtung, dass Kinder im Kindergarten
und in der Schule westlich beeinflusst werden (Nahrung mit Schweinefleisch!),
Kopftuch als Bekenntnis zur islamischen Identität in einer christlichen
Umwelt (B 25), Religion als Identitätsanker, christlich-moslemischer
Dialog (s. Baustein C).
Eine Minderheit in der Minderheit - Kurden in Deutschland
"Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen" (Max Frisch).
Mit den Menschen kamen auch deren Konflikte ins Land. Beispielhaft wurde
dies der deutschen Öffentlichkeit durch den Konflikt zwischen Kurden
und Türken vor Augen geführt. Dramatische Ereignisse waren im
Juni 1993 die Besetzung des türkischen Generalkonsulats in München,
der Anschlag auf 53 türkische Einrichtungen am 4. November 1993, die
Autobahnblockaden im März 1994 nach dem Verbot des Newroz-Festes in
Augsburg und mehreren anderen Städten und schließlich die Unruhen
nach der Verschleppung Öcalans von Kenia in die Türkei im Februar
1999.
Seinen Ursprung hat dieser Konflikt in der am 19.10.1923 gegründeten
türkischen Republik. Nach der Gründung des neuen Staates ging
die türkische nationalistische Elite unter Führung Mustafa Kemals
daran, ein einheitliches Staatsvolk zu schaffen. Sie setzte sich zum Ziel,
die innerhalb der Staatsgrenzen lebende Bevölkerung kulturell, sprachlich,
politisch und gesellschaftlich zu integrieren und zu vereinheitlichen.
Kulturell-sprachliche Unterschiede wurden nicht geduldet. Die Kurden wehrten
sich gegen diese Homogenisierung. Bei ihnen führte der Anpassungs-
und Assimilationsdruck zu einer Verstärkung des Wir-Gefühls und
Politisierung des ethnischen Bewusstseins. Die Folge ist der türkisch-kurdische
Konflikt in Ostanatolien. (Aguicenoglu, S. 230 ff. Eine gute didaktische
Bearbeitung des türkisch-kurdischen Konflikts in der Türkei von
Sabine Skubsch ist in "Die Unterrichtspraxis", Heft 6/1999 enthalten.)
Die Zahl der Kurden in der Bundesrepublik wird heute auf 580 000 geschätzt,
von denen allein 550 000 aus der Türkei stammen. Die Kurden, die im
Rahmen des Anwerbeabkommens seit 1961 nach Deutschland kamen, hatten oft
bereits eine Binnenwanderung in den Westen der Türkei hinter sich
(Flucht vor Verfolgung und Elend in Kurdistan oder Zwangsumsiedlung), wo
sie meist in den Armenvierteln an der Peripherie der Großstädte
lebten. Diese politisch meist inaktiven Menschen hofften auf eine Verbesserung
ihrer ökonomischen Situation in Deutschland. Der Anwerbestopp 1973
löste auch bei den Kurden den Familiennachzug aus. Während des
Militärregimes seit 1980 kamen Kurden ebenso wie viele Türken
als politische Flüchtlinge nach Deutschland. Politische Flüchtlinge
kamen auch aus den kurdischen Gebieten im Irak, Persien und Syrien. Deutschland
hat verglichen mit anderen westeuropäischen Staaten den größten
Anteil von Kurden an der ausländischen Wohnbevölkerung.
Die erste Generation der kurdischen Zuwanderer aus der Türkei
hatte weitgehend die durch die kemalistische Ideologie zugewiesene Identität
als "Bergtürken" (B 26) übernommen und bemühte sich
zunächst, der als überlegen empfundenen türkischen Kultur
zu entsprechen. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch unter den Bedingungen
der bundesrepublikanischen Gesellschaft aus der türkischen Minderheit
eine eigenständige ethnische Minderheit der Kurden herausgelöst.
Kurde zu sein, ist für viele in Deutschland geborene junge Kurden
eine Quelle des Selbstvertrauens: "Ich bin Kurde und ich bin stolz." Durch
identitätsstiftende Symbole wie Sticker, Schals, Haarspangen in den
Farben der kurdischen Flagge Rot, Gelb, Grün setzen sie sich von den
türkischen Jugendlichen ab und machen ihre Identität sichtbar.
Als Ausdruck des gemeinsamen kulturellen Erbes gilt das Newrozfest, das
am 21. März gefeiert wird. Heute nehmen zehntausende von Kurden daran
teil (B 29).
Eines der wichtigsten politischen Ziele der kurdischen Minderheit in
der Bundesrepublik ist die offizielle Anerkennung als Volksgruppe. Viele
Kurden sehen in der Tatsache, dass dies bisher nicht geschah, die Fortsetzung
der Türkisierungspolitik auf deutschem Boden (B 30). Praktisch
würde diese Anerkennung u.a. bedeuten: muttersprachlicher Unterricht
in allen Bundesländern (bisher nur in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen
und Bremen), Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache, Anerkennung
kurdischer Namen durch die deutschen Standesämter. (Kurdische Kinder
in der Bundesrepublik dürfen bislang nicht auf kurdische Namen getauft
werden.)
Ein Indikator der ethnischen Gruppenbildung ist die große Anzahl
von kurdischen Organisationen, deren Zahl sich auf schätzungsweise
150 beläuft. "Für das kulturelle Leben der Kurden spielen die
Vereine eine besonders wichtige Rolle. Sie organisieren Folkloregruppen,
Theater, kurdische Literaturlesungen, stellen kurdische Bibliotheken zusammen,
unterrichten die traditionellen kurdischen Musikinstrumente. Viele Kurden
lernen hier überhaupt erst ihre Muttersprache ..." (Stein, S. 105).
Gegenwärtig gibt es einige Anzeichen, welche Hoffnungen auf eine
politische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts in der Türkei
aufscheinen lassen. Nach der Verkündigung des Todesurteils über
Öcalan am 29.6.1999 hat die Europäische Union die Türkei
vor der Hinrichtung Öcalans gewarnt, da die EU die Todesstrafe grundsätzlich
ablehne. Damit hat die Gemeinschaft deutlich gemacht, dass für sie
die Chancen eines EU-Beitritts der Türkei auch mit einer politischen
Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts zusammenhängen.
Der Begriff "Kurdenfrage" existiert in der Türkei offiziell nicht.
Bislang spricht man von einem "Terroristenproblem". Die Verschiebung der
Entscheidung über das Schicksal Öcalans auf die europäische
Ebene weist jedoch auf den Weg einer politischen Lösung hin. Auf eine
solche Lösung hoffen auch viele Kurden und Türken in Deutschland.
Noch ist aber auch unklar, wie sich das Militär in der Türkei
zu dieser Frage verhält.
Literaturhinweise
Aguicenoglu, Hüseyin: Genese der türkischen und kurdischen
Nationalismen im Vergleich - Vom islamisch-osmanischen Universalismus zum
nationalen Konflikt, Heidelberger Studien zur internationalen Politik Bd.
5, Lit. Verlag, Heidelberg 1997
Falk, Svenja: Dimensionen kurdischer Ethnizität und Politisierung
- Eine Fallstudie ethnischer Gruppenbildung in der Bundesrepublik Deutschland,
Nomos Universitätsschriften Politik Bd. 72, Nomos Verlag, Baden-Baden
1998
Feindt-Riggers, Nils/Steinbach, Udo: Islamische Organisationen in Deutschland
- Eine aktuelle Bestandsaufnahme und Analyse, Deutsches Orient-Institut,
Hamburg 1997
Fremde Heimat - Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei
(Katalog zu der gleichnamigen Ausstellung des Ruhrlandmuseums und Dokumentationszentrums
und Museums über die Migration aus der Türkei (Domit) in Essen
1998, Klartext-Verlag, Essen 1998
Gür, Metin: Türkisch-islamische Vereinigungen in der Bundesrepublik
Deutschland, Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a.M. 1993
Hoffmann, Lutz: Die unvollendete Republik, Köln 1990
Kreiser, Klaus: Kleines Türkei-Lexikon, Beck´sche Reihe
(838), München 1991
Leukefeld, Karin: Solange noch ein Weg ist ... - Die Kurden zwischen
Verfolgung und Widerstand, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1996
Özcan, Ertekin: Türkische Immigrantenorganisationen in der
Bundesrepublik Deutschland, Hitit-Verlag, Berlin-West 1989
Schiffauer, Werner: Die Migranten aus Subay - Türken in Deutschland
- eine Ethnographie, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1991
Seidel-Pielen, Eberhard: Unsere Türken - Annäherungen an ein
gespaltenes Verhältnis, Elefanten Press Verlag, Berlin 1995
S¸en, Faruk: Türkei, Beck'sche Reihe (803), München
1996
S¸en, Faruk/Goldberg, Andreas: Türken in Deutschland - Leben
zwischen zwei Kulturen, Beck'sche Reihe (1075), München 1994
Senol, Sengül: Kurden in Deutschland - Fremde unter Fremden, Haag+Herchen
Verlag, Frankfurt a.M. 1992
Skubsch, Sabine: Der türkisch-kurdische Konflikt - Ursachen und
Lösungsansätze, in: Die Unterrichtspraxis, Beilage zu "Bildung
und Wissenschaft" der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg,
Heft 6, 1999, 33. Jahrgang, S. 41 ff.
Statistik von Baden-Württemberg, Bd. 548: Die Ausländer 1999,
Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Stuttgart, 1999
Stein, Gottfried: Endkampf um Kurdistan? Die PKK, die Türkei und
Deutschland, Bonn Aktuell im Verlag Moderne Industrie, München 1994
Zeitpunkte No. 2/1999: Türken in Deutschland - Ihre Sorgen, ihre
Erfolge, ihre Zukunft
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