Zeitschrift 

Türken bei uns

Baustein B 

Migration
 

Heft 3/2000 , Hrsg.: LpB

 

Inhaltsverzeichnis


Vierzig Jahre Migration

Am 30.10.1961 wurde die türkisch-deutsche Vereinbarung über die Anwerbung von Arbeitskräften abgeschlossen. Wie bei den vorausgehenden Anwerbe-Abkommen mit anderen Ländern (Italien 1955, Spanien und Griechenland 1960) ging auch bei der Türkei die Initiative vom "Entsendeland" aus. Die damalige türkische Militärregierung beabsichtigte, durch eine befristete Emigration den Arbeitsmarkt zu entlasten, dringend benötigte Devisen ins Land zu bringen und durch das Know-how der qualifizierten Rückkehrer die wirtschaftliche Modernisierung in der Türkei zu fördern. Zudem wollte die Regierung die bisher individuelle, meist mit Hilfe kommerzieller Übersetzungsbüros stattfindende Migration von Arbeitskräften unter Kontrolle bringen.
Auf der anderen Seite gab es in der Bundesrepublik seit 1952 eine Diskussion darüber, ob und wie man den Arbeitskräftemangel durch die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer mindern könne. Das starke Wirtschaftswachstum bedingte einen großen Arbeitskräftebedarf. Obwohl durch die Fluchtbewegung aus der DDR auch viele Arbeitskräfte kamen, stellten die deutschen Behörden 1960 fest, die Arbeitskräftereserven der Bundesrepublik lägen in der Hauptsache bei ausländischen Arbeitnehmern. Das Arbeitsministerium ließ seine Bedenken gegen den Abschluss eines Abkommens mit der Türkei fallen. Eine Rolle beim Zustandekommen des Abkommens spielte auch der Hinweis des türkischen Botschafters im Dezember 1960, seine Regierung betrachte die Ablehnung ihres Wunsches nach einem Vertrag als Zurücksetzung des Nato-Mitgliedes Türkei insbesondere gegenüber Griechenland.
Im November 1961 kamen die ersten 2100 türkischen "Gastarbeiter" auf der Grundlage des Anwerbeabkommens nach Deutschland. Damit beginnt eine vierzigjährige Migrationsgeschichte (B 2, B 3). Der Mauerbau 1961 stoppte die Wanderung aus dem Osten und begünstigte den raschen Zustrom türkischer Arbeitskräfte. 
 
 
Phasen der Migration

Die Migrationsforschung (Falk, S. 149 ff.) unterscheidet vier Phasen der Migration in die Bundesrepublik: 

1. Die Arbeitsmigration 1961 bis 1973 
2. Der verstärkte Familiennachzug nach dem Anwerbestopp 1973 
3. Die Phase der faktischen Niederlassung seit 1980 
4. Die Minderheitenbildung seit Ende der achtziger Jahre
 

Zur Anwerbung der türkischen Arbeitskräfte richtete die Bundesanstalt für Arbeit in Istanbul eine deutsche Verbindungsstelle ein. Diese nahm die Auswahl auf der Grundlage einer beruflichen Eignungsprüfung und einer medizinischen Untersuchung vor. Von 1961 bis 1973 forderten die Unternehmen rund 710 000 Arbeitskräfte aus der Türkei an (B 4, B 5). Das Ausbildungs- und Qualifikationsniveau der ersten Generation türkischer Arbeitsmigranten war relativ niedrig, allerdings nicht niedriger als das der Arbeitskräfte anderer Länder. Die Zugereisten lebten zum größten Teil in von den Unternehmen zur Verfügung gestellten Gemeinschaftsunterkünften. Wegen der Enge traf man sich in der Freizeit oft an Bahnhöfen, in Parks oder in Kneipen (B 6). An ihren Lebensstandard stellten die türkischen Arbeiter minimale Anforderungen, um einen Großteil ihres Verdienstes in die Türkei schicken zu können. Dieser Geldtransfer war bis Ende der siebziger Jahre fast so hoch wie die Einnahmen des türkischen Staates aus Exporten. Die türkischen Arbeitnehmer fühlten sich in Deutschland in der Fremde (B 7, B 8). Meist hatten sie auch den Wunsch, in die Türkei zurückzukehren, um sich dort mit dem Ersparten eine Existenz aufzubauen. 
Die türkischen Arbeitskräfte waren in der deutschen Industrie sehr begehrt (B 9, B 11). Ein Rotationsprinzip (Begrenzung der Arbeitserlaubnis auf zwei Jahre), hatte das Bundesinnenministerium durchgesetzt, lag aber auch im Interesse der türkischen Regierung (Kontrolle der Migration, Rückkehr qualifizierter Arbeitnehmer). Dieses Prinzip wurde auf Drängen der deutschen Wirtschaft schon 1962 faktisch, 1964 auch formell fallen gelassen Das Abkommen über soziale Sicherheit vom 30.4.1964 bezog nach dem zweiten auch das dritte und jedes weitere Kind in die deutsche Kindergeldregelung ein und stellte die türkischen Arbeitnehmer mit den deutschen sozialrechtlich weitgehend gleich. (Fremde Heimat, S. 76 f.) 

Wendepunkte

Ein entscheidender Wendepunkt in der Migration war der Anwerbestopp von 1973. Diese Maßnahme, bedingt durch wirtschaftliche Schwierigkeiten (Rezession 1967, Ölkrise 1973), sollte die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik vermindern. Tatsächlich hatte sie jedoch den entgegengesetzten Effekt. Viele Türken befürchteten, noch strengere Regelungen zur Familienzusammenführung könnten folgen, und ließen deshalb ihre Familien verstärkt in die Bundesrepublik nachkommen. Wie bei den Ausländern insgesamt, stieg auch bei den Türken die Wohnbevölkerung kontinuierlich an, während sich der Anteil der Arbeitnehmer bei etwa einem Drittel konsolidierte (B 12)
Ein neuer Wendepunkt ergab sich 1980 durch den zweiten Militärputsch in der Türkei. Regimegegner - Türken wie Kurden - kamen nun als Asylbewerber in die Bundesrepublik, in den achtziger Jahren insgesamt etwa 125 000 Personen. Man bezeichnet die achtziger Jahre als Phase der faktischen Niederlassung. Eine Rolle spielten dabei die politische und wirtschaftliche Lage in der Türkei; nach offiziellen Angaben betrug die Arbeitslosenquote 1983 über 18 Prozent. 
Zudem war eine Rückkehr in die Heimat irreversibel - für türkische Migranten bestand wegen der Nichtmitgliedschaft in der EG keine Freizügigkeit. Der Zeitpunkt für eine Rückkehr wurde deshalb auf später verschoben. Da auch die medizinische Versorgung sowie die Schul- und Berufsausbildung in Deutschland besser waren, stieg die Aufenthaltsdauer immer weiter an (B 13). 1982 hielten sich 37 Prozent der türkischen Staatsangehörigen länger als zehn Jahre in der Bundesrepublik auf, heute sind es rund 60 Prozent. Heute sind drei Viertel aller unter Fünfzehnjährigen in der Bundesrepublik geboren. Durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes im Musterprozess "Kazim Kus" wurde das Bleiberecht der Türken wesentlich gestärkt. 

Leben als Minderheit

Seit dem Ende der achtziger Jahre bilden die türkischen Staatsangehörigen als Minderheit einen festen Bestandteil in der Gesellschaft der Bundesrepublik. Heute leben 2,1 Millionen Türken bei uns (B 1), der größte Teil in den Ballungsgebieten Nordrhein-Westfalens und Baden-Württembergs. Die rund 250 000 Bürger türkischer Herkunft, die mittlerweile den deutschen Pass haben, sind dabei nicht mitgerechnet. Für den Großteil der hier geborenen zweiten und dritten Generation (B 16, B 17) ist ein Leben in der Türkei keine Option mehr; die persönliche und berufliche Zukunft wird in Deutschland geplant. Diese Entwicklung lässt sich an einigen Merkmalen zeigen.
1. Seit den achtziger Jahren bildeten sich viele Vereine (1995 ca. 1900), die nicht mehr, wie in den sechziger Jahren, parteipolitisch und gewerkschaftlich ausgerichtet sind, sondern berufliche, kulturelle, soziale und Freizeitinteressen abdecken: Sportvereine, Kultur- und Freizeitvereine, Elternvereine, Vereinigungen bestimmter Berufs- und Interessengruppen (wie Mediziner, Lehrer, Unternehmer oder Kaufleute). Daneben gibt es eine große Zahl islamischer Vereine und Moscheevereine.
2. Türken leisten heute einen wichtigen Beitrag zur deutschen Wirtschaft. Das Hauptinteresse liegt nicht mehr im Ansparen von Geldmitteln für eine Existenzgründung in der Türkei. Auch als Konsumenten sind türkische Haushalte ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor geworden. Von  den gegenwärtig 500 000 türkischen Haushalten haben über 55 000 eine Eigentumswohnung oder ein Eigenheim erworben. Zudem haben 135 000 Türken Bausparverträge abgeschlossen. 
3. Die türkische Bevölkerung in Deutschland differenziert sich in sozialer und ökonomischer Hinsicht. 1972 waren noch 84 Prozent der männlichen Türken als ungelernte oder angelernte Arbeiter und nur 16 Prozent als Facharbeiter tätig. 1993 arbeiteten noch 50 Prozent der türkischen Erwerbstätigen als un- oder angelernte Arbeiter, 25 Prozent als Facharbeiter und abhängige Handwerker, 17 Prozent als Angestellte, 6 Prozent sind selbstständig. In den letzten zehn Jahren ist ein neuer türkischer Mittelstand entstanden (B 14), dessen sozialer Aufstieg vorrangig durch die Selbstständigkeit erfolgte. 
4. Viele türkische Jugendliche nutzen die Bildungs- und Berufs-Chancen, die sich ihnen in der Bundesrepublik bieten. Immer mehr verlassen die typischen "Gastarbeiterberufe" und kommen im Dienstleistungssektor unter. Diese Entwicklung zeigt sich auch in der steigenden Zahl türkischer Studenten an deutschen Hochschulen. Von ihnen war der überwiegende Teil in Deutschland geboren worden und zur Schule gegangen. Über 60 Prozent der türkischen Studenten kommen aus Arbeiterfamilien. Sie beginnen ihr Studium mit großem familiärem Rückhalt. Viele Eltern haben aus ihrer Heimat die Einstellung mitgebracht, nur ein Studium könne einen beruflichen Aufstieg und eine spätere Karriere vorbereiten. Im Sommersemester 1997 studierten über 21 000 türkische Studenten an deutschen Hochschulen. In den letzten Jahren befinden sich unter den türkischen Studierenden auch immer mehr Frauen. Diese Kinder der ersten Migrantengeneration werden in Zukunft den Aufstieg der türkischen Minderheit in die Mittel- und Oberschicht fördern. Auch in der Fächerwahl gibt es Veränderungen: Studierte früher die Mehrzahl der türkischen Studenten Fächer wie Ingenieur- oder Naturwissenschaften, die besonders in der Türkei gute Berufsaussichten boten, so überwiegen heute Fächer wie Jura oder Lehramt, deren Zukunftschancen vor allem in der Bundesrepublik liegen (B 15). Immer mehr stellt sich für die heranwachsenden Türken die Frage, wo ihre Heimat ist: in Deutschland, dessen Sprache sie sprechen, oder in der Türkei, das Land, aus dem ihre Familien und Vorfahren stammen, oder in beiden (B 16)

Leben zwischen zwei Kulturen

Integration bedeutet sowohl den Prozess als auch das Ergebnis der Eingliederung einer Person, einer sozialen oder ethnischen Minderheit in eine Gesellschaft. Lutz Hoffmann stellt fest, dass sich die Integration der "Gastarbeiter" durch die unvermeidbare Übernahme von Rollen in einer funktional differenzierten Gesellschaft von selbst vollzog. Staaten, die diesen Prozess verhindern wollen, bedienen sich des Rotationsprinzips (wie die Schweiz). Dieses Prinzip galt anfangs auch in der Bundesrepublik, wurde aber auf Drängen der Wirtschaft bald fallen gelassen. 
 

Ebenen der Integration

In Anlehnung an Lutz Hoffmann kann man zwischen unterschiedlichen Ebenen der Integration unterscheiden.

  • Gesellschaftliche Ebene: Übernahme beruflicher und gesellschaftlicher Positionen und Rollen in der Aufnahmegesellschaft (Arbeitnehmer, Schülerin, Vereinsmitglied etc.).
  • Rechtliche Ebene: Akzeptanz der Rechtsordnung der Aufnahmegesellschaft. Zur Wahrung seiner Rechte bedient sich der Migrant der Normen und Wege des Rechtsstaats. Die rechtliche Integration, d.h. die Akzeptanz der Rechtsordnung, hat auch eine große Bedeutung für die Erhaltung des sozialen Friedens, z.B. in dem Konflikt zwischen Türken und Kurden.
  • Kulturelle Ebene: Übernahme von Sprache, Normen, Wertvorstellungen, Lebensformen, Gewohnheiten der Aufnahmegesellschaft.
  • Politische Ebene: Der entscheidende Schritt zur politischen Integration ist die Gewährung der Staatsbürgerschaft (vgl. Baustein C).

Integration als Problem türkischer Familien 

Das Modell von Lutz Hoffmann (vgl. Kasten oben rechts) könnte man anhand des Textes "Durchweinte Nächte" (B 18) didaktisch umsetzen. Der Text stammt aus der Lebenswirklichkeit einer jungen Türkin. Die Begriffe Gruppe, Position, Rolle, Sozialisation und Integration sind Stoff in Gemeinschaftskunde im Sekundarbereich I.
Mögliche Aufgaben dazu: 1. Welchen Gruppen gehört Aylin an? 2. Welche Rollen übernimmt sie in diesen Gruppen? 3. Welche Erwartungen stellen die Gruppen an Aylin? 4. Beschreibe die Konflikte, die sich auf Grund von Aylins Zugehörigkeit zu den verschiedenen Gruppen ergeben.
Bei der Analyse des Textes ergibt sich, dass die Situation Aylins in vieler Hinsicht derjenigen der deutschen Mitschüler gleicht: Freundschaften, Auseinandersetzungen mit Mitschülern, Familie, Krach mit den Eltern. Doch darüber hinaus lebt sie in einer Spannung, welche die deutschen Schüler nicht kennen: Bindung an die kulturellen und religiösen Traditionen der Familie und türkischen Minderheit einerseits, Anpassung an die Normen der deutschen Gesellschaft andererseits. Dieses Spannungsverhältnis belastet sie besonders. Es bedeutet für sie Identitätskrise, innere Zweifel, Gewissenskonflikte, drohende Entfremdung von den Eltern, von den Verwandten, von der Heimat. Nach der Analyse des Textes ist auch eine Umsetzung in einem Rollenspiel denkbar. 
Aus der Sicht türkischer Eltern ergibt sich die Frage, ob die Sozialisation ihrer Kinder in ihrem Sinn verläuft. Diese Frage ist für Eltern in allen Gesellschaften relevant. Wo sich bisher fest gefügte Verhältnisse durch Struktur- und Wertewandel auflösen, entsteht in den Familien ein Konfliktpotenzial. Für türkische Migrantenfamilien ist dieses Problem besonders drückend, da der kulturelle Abstand zur Aufnahmegesellschaft sehr groß ist. Stammen sie aus dörflichen Verhältnissen, dann haben sie stabile Lebensbedingungen aufgegeben, unter denen sich die Sozialisation der Kinder beinahe naturwüchsig vollzieht. In Deutschland leben sie meist in einer städtischen Umwelt, die von großer Freizügigkeit, Dynamik, Modernität und Konsumorientierung geprägt ist.
Durch die Berührung der Kinder mit dem gesellschaftlichen Umfeld vollzieht sich bei ihnen ein Sozialisationsprozess, auf den außerfamiliäre Instanzen einwirken: Kindergarten, Schule, Jugendgruppen, Freunde und Freundinnen sowie die Medien. Die Eltern müssen damit rechnen, dass die Kinder andere, den elterlichen Vorstellungen oft widersprechende Normen und Werte übernehmen, wenn sie sich diese Lebenswelt eigenständig aneignen. "Die Eltern sehen sich vor einen Zielkonflikt gestellt. Sie müssen abwägen zwischen der Notwendigkeit, die Kinder auf die Gesellschaft vorzubereiten und der Notwendigkeit, sie vor der Gesellschaft zu schützen" (Schiffauer, S. 241), wenn sie ihre Kinder traditionell erziehen wollen. Das Konfliktpotential innerhalb der Familie, das hier sichtbar wird, kann zu Schulversagen, zum Abgleiten in die Kriminalität oder zur familiären Katastrophe führen. Elterliche Erziehungsmaßnahmen, die auf Zwang und physischer Gewalt beruhen, wirken oft kontraproduktiv, da sie, anstatt die Kinder wieder in die Familie einzubinden, zu  zunehmender Entfremdung führen können.
Wir müssen uns allerdings klar machen, dass es die türkische Familie weder in der Türkei noch in der Bundesrepublik gibt. Die Herkunft spielt eine entscheidende Rolle in der Erziehung der Kinder. Besonders für traditionell geprägte Familien ist die Erziehung in der Bundesrepublik ein großes Problem. Aus Angst vor der Entfremdung ihrer Kinder von der Familie und der Heimat ihrer Eltern werden vor allem Mädchen in Deutschland oft sogar traditionsbewusster erzogen, als dies in der Türkei der Fall wäre. 
Ein traditionelles Familienverständnis kommt auch darin zum Ausdruck, dass viele Türken, die hier aufgewachsen sind, ihren Ehepartner in der Türkei suchen (vgl. Baustein C). Anhand des  Textes B 19 können die Schüler die unterschiedlichen Erziehungsstrategien erörtern. Während Asiz seinen Sohn bewusst mit den "Gefahren" der Gesellschaft konfrontieren will, um ihn dagegen zu wappnen, wählen Yasar und Fatma den Rückzug in die Isolation. Sie setzen eher auf zusätzliche pädagogische Institutionen wie den Korankurs (B 20). Eine solche Erziehungsstrategie kann die Integration türkischer Jugendlicher erschweren. 

Der Islam der Türken in Deutschland

Neben den beiden christlichen Konfessionen bildet der Islam die drittgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Heute leben drei Millionen Muslime in Deutschland, von denen etwa zwei Drittel türkische Staatsbürger sind. Sie umfassen 98 Prozent der 2,1 Millionen in Deutschland lebenden Türken. Ein Prozent sind Yeziden (eine Mischreligion aus Christentum, Islam und Zoroastrismus in einigen Dutzend Dörfern Südostanatoliens). Sie gehören zur ethnischen Gruppe der Kurden. Ein weiteres Prozent sind Christen.
Viele Deutsche sehen in der ihnen fremd erscheinenden Religion des Islam ein echtes Integrationshemmnis. Kopftuch, die Rolle der Frau, islamischer Fundamentalismus und Fanatismus sind Reizthemen, die beinahe reflexhaft erwähnt werden, wenn man von Türken spricht (B 24, B 25). An ihnen entzündet sich die Angst vor Überfremdung, vor islamischen Ghettos, vor Entstehung sozialer Konflikte und Gefährdung des inneren Friedens. (Karikatur C 15: Das Minarett ist höher als der Kölner Dom; die türkische Flagge auf dem Minarett verweist auf die Furcht vor Fremdsteuerung.) Wie weit solche Befürchtungen objektiv begründet sind, ist schwer zu beurteilen. Die fundamentalistischen Gruppen in Deutschland, deren Demokratieverständnis fraglich ist, werden vom Verfassungsschutz beobachtet (z.B. IGMG und ICCB).
Faruk S¸en vom Zentrum für Türkeistudien weist darauf hin, dass jeder dritte Türke in der Bundesrepublik praktizierender Muslim ist. Verglichen mit christlichen Konfessionen mag diese Zahl hoch erscheinen. Dies bedeutet aber auch, dass zwei Drittel der türkischen Migranten säkular eingestellt sind. Zudem vertritt die größte islamische Gruppe in Deutschland - die DITIB - einen gemäßigten Standpunkt. Sie wurde vom Präsidium für Religionsangelegenheiten (DIB) ins Leben gerufen, um dem wachsenden Einfluss fundamentalistischer Kräfte auf die Türken in Deutschland entgegenzuwirken. Islamistische Gruppen in der Türkei betrachten die Türken in Deutschland als eine wichtige Zielgruppe, da sie wegen der Religionsfreiheit in Deutschland freier agieren können als in der Türkei selbst.
In Deutschland bildeten sich bis Mitte der neunziger Jahre etwa 1200 türkische Moscheegemeinden. Die meisten schlossen sich größeren Dachverbänden an, von denen sie bei der Bemühung um einen Imam oder Hoca und um Finanzmittel unterstützt werden. 
So sehr einzelne Richtungen des Islam zentralistische und hierarchische Strukturen aufweisen, so wenig besteht im Islam in Deutschland insgesamt eine übergeordnete organisatorische Struktur. Es gibt vielmehr eine Vielfalt von Gruppierungen, die voneinander unabhängig sind und teilweise gegensätzliche Vorstellungen vertreten. Dazu kommt, dass sich die Namen immer wieder verändern können und sie in den Medien auch unterschiedlich übersetzt werden. Dies macht die Lage unübersichtlich. Beim Religionsunterricht ergibt sich das Problem, dass ein einheitlicher Ansprechpartner fehlt.
 
 

Obwohl die Rückkehrneigung der türkischen Migranten in der Bundesrepublik stark nachgelassen hat und die Integration fortschreitet, verstärkt sich andererseits die Hinwendung zum Islam. Faruk S¸en führt dies auf das Leben als kulturelle und religiöse Minderheit in der Diaspora zurück. So können Menschen, die in der Türkei weniger religiös waren, in Deutschland eine starke Verbundenheit zu ihrer Religion entwickeln. S¸en stellt die Frage, ob Religion weniger ein Hemmnis als vielmehr ein Bestandteil der Integration sei. (S¸en/Goldberg, S. 91)
Die Materialien (B 21 bis B 23) vermitteln Grundkenntnisse zum Islam und können Anregung für vertiefende Unterrichtsgespräche sein. Als Einstieg könnte die Frage dienen: Welche Gemeinsamkeiten gibt es im Alltag? (Gemeinsame Wurzeln bei Namen: Adem/Adam, Ibrahim/Abraham, Davut/David, Cebrail/Gabriel. Fasten bei Muslimen und Christen. Religiöse Feste.) Hier empfiehlt sich der fächerverbindende Unterricht mit Religion. Wenn in der Nähe eine Moschee vorhanden ist, können sich die Schüler erkundigen, wann die Feste stattfinden (B 23). Im Jahr 2000 war das Opferfest am 16. März; da es jedes Jahr um zehn Tage vorrückt, ist der Termin im Jahr 2001 der 6. März.
Ein zweiter, eher gemeinschaftskundlicher Aspekt ist die Frage, welche Bedeutung die Migrationsbedingungen, die der Situation in der Diaspora entsprechen, für die religiöse Praxis der Muslime haben: Probleme beim Bau einer Moschee in einer christlichen Gemeinde, Beten des Namaz in einem christlichen Umfeld; Befürchtung, dass Kinder im Kindergarten und in der Schule westlich beeinflusst werden (Nahrung mit Schweinefleisch!), Kopftuch als Bekenntnis zur islamischen Identität in einer christlichen Umwelt (B 25), Religion als Identitätsanker, christlich-moslemischer Dialog (s. Baustein C).

Eine Minderheit in der Minderheit - Kurden in Deutschland

"Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen" (Max Frisch). Mit den Menschen kamen auch deren Konflikte ins Land. Beispielhaft wurde dies der deutschen Öffentlichkeit durch den Konflikt zwischen Kurden und Türken vor Augen geführt. Dramatische Ereignisse waren im Juni 1993 die Besetzung des türkischen Generalkonsulats in München, der Anschlag auf 53 türkische Einrichtungen am 4. November 1993, die Autobahnblockaden im März 1994 nach dem Verbot des Newroz-Festes in Augsburg und mehreren anderen Städten und schließlich die Unruhen nach der Verschleppung Öcalans von Kenia in die Türkei im Februar 1999. 
Seinen Ursprung hat dieser Konflikt in der am 19.10.1923 gegründeten türkischen Republik. Nach der Gründung des neuen Staates ging die türkische nationalistische Elite unter Führung Mustafa Kemals daran, ein einheitliches Staatsvolk zu schaffen. Sie setzte sich zum Ziel, die innerhalb der Staatsgrenzen lebende Bevölkerung kulturell, sprachlich, politisch und gesellschaftlich zu integrieren und zu vereinheitlichen. Kulturell-sprachliche Unterschiede wurden nicht geduldet. Die Kurden wehrten sich gegen diese Homogenisierung. Bei ihnen führte der Anpassungs- und Assimilationsdruck zu einer Verstärkung des Wir-Gefühls und Politisierung des ethnischen Bewusstseins. Die Folge ist der türkisch-kurdische Konflikt in Ostanatolien. (Aguicenoglu, S. 230 ff. Eine gute didaktische Bearbeitung des türkisch-kurdischen Konflikts in der Türkei von Sabine Skubsch ist in "Die Unterrichtspraxis", Heft 6/1999 enthalten.)
Die Zahl der Kurden in der Bundesrepublik wird heute auf 580 000 geschätzt, von denen allein 550 000 aus der Türkei stammen. Die Kurden, die im Rahmen des Anwerbeabkommens seit 1961 nach Deutschland kamen, hatten oft bereits eine Binnenwanderung in den Westen der Türkei hinter sich (Flucht vor Verfolgung und Elend in Kurdistan oder Zwangsumsiedlung), wo sie meist in den Armenvierteln an der Peripherie der Großstädte lebten. Diese politisch meist inaktiven Menschen hofften auf eine Verbesserung ihrer ökonomischen Situation in Deutschland. Der Anwerbestopp 1973 löste auch bei den Kurden den Familiennachzug aus. Während des Militärregimes seit 1980 kamen Kurden ebenso wie viele Türken als politische Flüchtlinge nach Deutschland. Politische Flüchtlinge kamen auch aus den kurdischen Gebieten im Irak, Persien und Syrien. Deutschland hat verglichen mit anderen westeuropäischen Staaten den größten Anteil von Kurden an der ausländischen Wohnbevölkerung. 
Die erste Generation der kurdischen Zuwanderer aus der Türkei hatte weitgehend die durch die kemalistische Ideologie zugewiesene Identität als "Bergtürken" (B 26) übernommen und bemühte sich zunächst, der als überlegen empfundenen türkischen Kultur zu entsprechen. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch unter den Bedingungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft aus der türkischen Minderheit eine eigenständige ethnische Minderheit der Kurden herausgelöst. Kurde zu sein, ist für viele in Deutschland geborene junge Kurden eine Quelle des Selbstvertrauens: "Ich bin Kurde und ich bin stolz." Durch identitätsstiftende Symbole wie Sticker, Schals, Haarspangen in den Farben der kurdischen Flagge Rot, Gelb, Grün setzen sie sich von den türkischen Jugendlichen ab und machen ihre Identität sichtbar. Als Ausdruck des gemeinsamen kulturellen Erbes gilt das Newrozfest, das am 21. März gefeiert wird. Heute nehmen zehntausende von Kurden daran teil (B 29).
Eines der wichtigsten politischen Ziele der kurdischen Minderheit in der Bundesrepublik ist die offizielle Anerkennung als Volksgruppe. Viele Kurden sehen in der Tatsache, dass dies bisher nicht geschah, die Fortsetzung der Türkisierungspolitik auf deutschem Boden (B 30). Praktisch würde diese Anerkennung u.a. bedeuten: muttersprachlicher Unterricht in allen Bundesländern (bisher nur in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bremen), Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache, Anerkennung kurdischer Namen durch die deutschen Standesämter. (Kurdische Kinder in der Bundesrepublik dürfen bislang nicht auf kurdische Namen getauft werden.) 
Ein Indikator der ethnischen Gruppenbildung ist die große Anzahl von kurdischen Organisationen, deren Zahl sich auf schätzungsweise 150 beläuft. "Für das kulturelle Leben der Kurden spielen die Vereine eine besonders wichtige Rolle. Sie organisieren Folkloregruppen, Theater, kurdische Literaturlesungen, stellen kurdische Bibliotheken zusammen, unterrichten die traditionellen kurdischen Musikinstrumente. Viele Kurden lernen hier überhaupt erst ihre Muttersprache ..." (Stein, S. 105).
Gegenwärtig gibt es einige Anzeichen, welche Hoffnungen auf eine politische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts in der Türkei aufscheinen lassen. Nach der Verkündigung des Todesurteils über Öcalan am 29.6.1999 hat die Europäische Union die Türkei vor der Hinrichtung Öcalans gewarnt, da die EU die Todesstrafe grundsätzlich ablehne. Damit hat die Gemeinschaft deutlich gemacht, dass für sie die Chancen eines EU-Beitritts der Türkei auch mit einer politischen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts zusammenhängen.
Der Begriff "Kurdenfrage" existiert in der Türkei offiziell nicht. Bislang spricht man von einem "Terroristenproblem". Die Verschiebung der Entscheidung über das Schicksal Öcalans auf die europäische Ebene weist jedoch auf den Weg einer politischen Lösung hin. Auf eine solche Lösung hoffen auch viele Kurden und Türken in Deutschland. Noch ist aber auch unklar, wie sich das Militär in der Türkei zu dieser Frage verhält.


Literaturhinweise
Aguicenoglu, Hüseyin: Genese der türkischen und kurdischen Nationalismen im Vergleich - Vom islamisch-osmanischen Universalismus zum nationalen Konflikt, Heidelberger Studien zur internationalen Politik Bd. 5, Lit. Verlag, Heidelberg 1997

Falk, Svenja: Dimensionen kurdischer Ethnizität und Politisierung - Eine Fallstudie ethnischer Gruppenbildung in der Bundesrepublik Deutschland, Nomos Universitätsschriften Politik Bd. 72, Nomos Verlag, Baden-Baden 1998

Feindt-Riggers, Nils/Steinbach, Udo: Islamische Organisationen in Deutschland - Eine aktuelle Bestandsaufnahme und Analyse, Deutsches Orient-Institut, Hamburg 1997

Fremde Heimat - Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei (Katalog zu der gleichnamigen Ausstellung des Ruhrlandmuseums und Dokumentationszentrums und Museums über die Migration aus der Türkei (Domit) in Essen 1998, Klartext-Verlag, Essen 1998

Gür, Metin: Türkisch-islamische Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland, Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a.M. 1993

Hoffmann, Lutz: Die unvollendete Republik, Köln 1990
Kreiser, Klaus: Kleines Türkei-Lexikon, Beck´sche Reihe (838), München 1991

Leukefeld, Karin: Solange noch ein Weg ist ... - Die Kurden zwischen Verfolgung und Widerstand, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1996
Özcan, Ertekin: Türkische Immigrantenorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Hitit-Verlag, Berlin-West 1989

Schiffauer, Werner: Die Migranten aus Subay - Türken in Deutschland - eine Ethnographie, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1991

Seidel-Pielen, Eberhard: Unsere Türken - Annäherungen an ein gespaltenes Verhältnis, Elefanten Press Verlag, Berlin 1995

S¸en, Faruk: Türkei, Beck'sche Reihe (803), München 1996

S¸en, Faruk/Goldberg, Andreas: Türken in Deutschland - Leben zwischen zwei Kulturen, Beck'sche Reihe (1075), München 1994

Senol, Sengül: Kurden in Deutschland - Fremde unter Fremden, Haag+Herchen Verlag, Frankfurt a.M. 1992

Skubsch, Sabine: Der türkisch-kurdische Konflikt - Ursachen und Lösungsansätze, in: Die Unterrichtspraxis, Beilage zu "Bildung und Wissenschaft" der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg, Heft 6, 1999, 33. Jahrgang, S. 41 ff.

Statistik von Baden-Württemberg, Bd. 548: Die Ausländer 1999, Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Stuttgart, 1999

Stein, Gottfried: Endkampf um Kurdistan? Die PKK, die Türkei und Deutschland, Bonn Aktuell im Verlag Moderne Industrie, München 1994

Zeitpunkte No. 2/1999: Türken in Deutschland - Ihre Sorgen, ihre Erfolge, ihre Zukunft
 


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