Zeitschrift

Jüdisches Leben in Baden-Württemberg

Möglichkeiten der Begegnung


Baustein C
Jüdisches Leben in Deutschland heute

C12 - C15 Enkel der Überlebenden


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Inhaltsverzeichnis


C 12 "Ich habe als Jude Angst"

David, 9. Klasse

Ich heiße David, bin elf Jahre alt und gehe in die Jüdische Grundschule. Man hat mich schon öfters in meiner Straße (auch außerhalb) gefragt, was ich bin, und ich habe immer wieder das gleiche geantwortet, nämlich dass ich ein Christ bin, das ist natürlich gelogen, aber ich hatte Angst, dass wenn ich die Wahrheit sage, dass sie mich verhauen oder sonst irgendwas mit mir machen.

In unserem Haus wissen eigentlich sowieso fast alle, dass ich ein Jude bin und sie behandeln mich eigentlich wie einen normalen Menschen, wie alle anderen auch. Das finde ich gut, weil ich nicht anders bin als andere Menschen, ich habe ja bloß nur eine andere Religion. Ansonsten habe ich auch gute christliche Freunde, die wissen natürlich, dass ich ein Jude bin und sie interessieren sich auch dafür, das finde ich toll, und es gab noch nie Streitereien, wo sie zu mir gesagt haben, dass ich ein "Scheißjude" sei und ich glaube auch nicht, dass alle Neonazis, die man im Fernsehen sieht, so schlimm sind. Die meisten werden ja leider auch von den Eltern beeinflusst. Ich glaube, dass fast alle Deutschen gut sind und nicht so denken wie die Neonazis. Trotzdem habe ich Angst, warum, weiß ich selbst manchmal nicht.

Alexa Brum u.a. (Hrsg.): Ich bin was ich bin, ein Jude, Jüdische Kinder in Deutschland erzählen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995, S. 32 f

 

C 13 Ein Mensch wie alle anderen

Evelyne, 16 Jahre

Früher hatte ich mich geschämt, jüdisch zu sein. Dies kam besonders vor, als ich noch in der Grundschule mit lauter Kindern zusammen war, die Christen waren. Diese wussten, dass ich Jüdin bin, aber über meinen Glauben hatten sie keine Ahnung. Besonders in den Zeiten vor christlichen Feiertagen kam ich mir etwas komisch vor, aber trotzdem wollte ich nicht Christ sein, und jetzt sage ich mir, wenn die Christen Weihnachten feiern, feiere ich sowieso Chanukka. Im Laufe der Jahre hat sich mein Gefühl Jüdin zu sein, sogar verändert, und ich bin stolz, dass ich diesen Glauben habe. Als ich dann ins Gymnasium kam, erzählte ich niemandem, dass ich Jüdin bin, weil ich die meisten meiner Mitschüler noch nicht kannte, aber jetzt ist es so, dass alle meine Freunde über meinen Glauben Bescheid wissen, und ich habe auch gar nichts dagegen. Trotzdem hatte ich schon mal Unannehmlichkeiten, Jüdin zu sein. Früher war ich im Handball, und da gab es zwischen zwei Gruppen einen großen Streit, über eine Meinungsverschiedenheit. Da sagte dann ein Mädchen meiner Gegengruppe: "Ach, lasst doch diese Gruppe sein, die sind doch alle mit einer Jüdin befreundet. Wenn es irgendwo Juden gibt, kommt es doch immer zum Streit!" Ein weiteres Beispiel war, als mich ein Junge fragte, ob ich überhaupt meinen Geburtstag feiere, ob ich abends ausgehen dürfte und ob ich überhaupt in Urlaub fahren würde. Meine Antwort war, dass ich doch genau wie er und alle anderen ein Mensch sei. Mir ist aufgefallen, dass alle Leute, die irgendwelche Vorurteile gegen Juden und das Judentum haben, entweder keine Ahnung über die Religion haben und/oder keinen Juden kennen.

Alexa Brum u.a. (Hrsg.): Ich bin was ich bin, ein Jude, Jüdische Kinder in Deutschland erzählen, Ksln: Kiepenheuer & Witsch 1995, S. 45 f

 

C 14 Deutsche, Israelin, oder was?

Lalenia Kedi, 17 Jahre

Mein Vater ist Israeli und Jude - meine Mutter ist Deutsche und konfessionslos. Zur Zeit besitze ich beide Pässe, ich fühle mich eigentlich als Jüdin, auch wenn ich offiziell keine bin. Denn es ist nicht so, wie viele Leute denken: eine Israelin ist nicht automatisch eine Jüdin oder umgekehrt.

Früher dachte ich, eines nahen Tages müsste die Entscheidung kommen: Bin ich Deutsche, Israelin, oder was? Für meine Familie in Israel war es immer sicher, dass ich nach Israel ziehe - und dann die Sache sowieso geklärt ist. Sogar meine Einberufung in die israelische Armee habe ich bereits. Und meine deutsche Familie? Für die bin ich schlicht und einfach Deutsche, keine Frage - denn ein Blick auf meinen "Perso" genügt.

Es gab hier in Deutschland schon Erlebnisse, die mir Angst gemacht haben: wie ein Mitschüler in der siebten Klasse im Streit zu mir sagte, man sollte mich auch noch vergasen, oder wie ich auf einem Campingplatz nicht mit zwei Kindern spielen durfte, weil ihr Vater erfahren hatte, welcher Herkunft ich bin. Ich fühle mich natürlich manchmal fremd hier in Deutschland, aber tut das nicht jeder manchmal - irgendwo?

Obwohl ich in Israel immer gut integriert werde, merke ich manchmal dort, dass es doch Unterschiede zwischen den israelischen Jugendlichen und mir gibt. Dieses Jahr, als ich in Israel war, unternahm ich an einem Abend etwas mit einigen jungen Leuten. Ich erzählte, woher ich komme, was ich mache ... Auf einmal baute sich ein Junge vor mir auf und schrie mich fast an: Wie ich es wagen könne, in dem Land zu wohnen, wo unsere Großväter umgebracht worden seien, ob ich denn keinen Respekt vor Israel habe, das Land, das die Juden mit ihren eigenen Händen für uns gebaut haben. Ich bin solch eine Tonlage nicht gewohnt, und plötzlich als Verräterin dazustehen - das war mir zu viel.

Ich kann jedoch auch seine Haltung verstehen und begreifen, dass er verbittert ist. Schließlich hat er seine Großeltern im Holocaust verloren. Doch für mich ist klar: er denkt zu subjektiv. Durch mein Leben habe ich gelernt, mehrere Sichtweisen zu akzeptieren. Das ist eigentlich ein Vorzug - manchmal auch eine Last.

Frankfurter Rundschau, 5.12.1997

 

C 15 "Das ist mein wunder Punkt"

Interview mit jüdischen Studenten über ihre Entscheidung, in Deutschland zu leben

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Gideon, Swetlana, Roy, Sophie, Ruediger: "Ich fühle mich als Deutscher"
Bild: T. Sandberg/Ostkreuz

Der SPIEGEL sprach mit fünf jüdischen Studenten über ihr Verhältnis zu Deutschland. Gideon, 23, und Swetlana, 22, studieren Betriebswirtschaftslehre. Sophie, 20, und ihr Bruder Ruediger, 21, sind Jurastudenten. Roy, 24, ist Physikstudent. Sophie, Gideon, Roy und Ruediger sind in Berlin aufgewachsen. Swetlana kam 1978 mit ihren Eltern aus dem ukrainischen Odessa.

SPIEGEL: Der israelische Präsident Eser Weizman hat gesagt, er könne nicht verstehen, dass in diesem Land noch Juden lebten. Sie sollten lieber nach Israel gehen. Haben Sie sich darüber geärgert?

Roy: Ich habe mich schon geärgert. Wo man lebt, muss doch jedem selbst überlassen sein. Mein Vater ist Überlebender des Holocaust und hat seine ganze Familie verloren. Wenn der sich entschieden hat, nach Deutschland zu gehen, und ich als sein Sohn bin bei ihm, dann kann eine außenstehende Person nicht einfach sagen: Du hast hier nichts verloren.

Sophie: Ich finde es verständlich, dass Weizman so etwas sagt. Wir Juden, die wir hier in Deutschland leben, stellen uns doch selbst ständig diese Frage - nach einem Besuch in einem der Konzentrationslager oder nach einem Film wie "Schindlers Liste". Nach solchen Ereignissen wird für mich jedesmal der Konflikt, hier zu leben, wieder lebendig. Was Weizman mit diesem Satz sagt, ist mein wunder Punkt.

SPIEGEL: Und deshalb tut Ihnen die Äußerung weh?

Sophie: Nein, sie tut mir nicht weh. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass es den nichtjüdischen Deutschen sehr weh tun muss, so etwas zu hören. Schließlich geben sie sich große Mühe, den Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen. Aber Weizman hat den Satz meiner Meinung nach nicht als Kritik am jetzigen Deutschland verstanden wissen wollen, sondern nur auf die Vergangenheit bezogen.

Ruediger: Es ist so, als ob Kinder von Ermordeten noch in demselben Haus wohnen wie die Enkel der Täter. Da kann man zwar sagen, da können die Enkel doch nichts dafür. Aber Weizman kann nicht verstehen, wie man in dem Haus wohnen bleiben kann.

SPIEGEL: Und Sie sehen das auch so?

Ruediger: Teilweise ja, vom Gefühl her. Und andererseits weiß ich natürlich, dass Deutschland heute einer der Staaten ist, in dem sich gut leben lässt, in dem so etwas wie in der Nazi-Zeit nicht so schnell wieder passieren kann.

SPIEGEL: Vor allem ältere Juden möchten sich wegen des Holocaust meist nicht als Deutsche verstehen. Sie sagen, wir sind Juden in Deutschland. Wie sehen Sie sich?

Swetlana: Ich bin natürlich auf meine Weise deutsch. Ich spreche deutsch, ich habe hier Abitur gemacht. Aber mit der Frage, ob ich jüdische Deutsche oder Jüdin in Deutschland bin, die andere Juden hier beschäftigt, kann ich wenig anfangen. Da sitze ich so ziemlich zwischen allen Stühlen. Israelin bin ich auch nicht. Ich sage mir einfach, ich bin Europäerin...

Gideon: Von 1871 bis 1933 war man jüdischer Deutscher. Von 1933 bis 1945 war man Untermensch, ab 1945 wieder jüdischer Deutscher. Ich verstehe mich heute auch so. Aber woher weiß ich, was in 20, 30 Jahren ist, ob ich dann noch Deutscher sein kann?

Der Spiegel, 4/1996 (Auszug)

 


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